Zwei Podiumsdiskussionen führte die Freie Presse in den vergangenen Wochen in Chemnitz durch. Die erste, zum Ukraine-Krieg mit Außenministerin Annalena Baerbock und Ex-Boxweltmeister Wladimir Klitschko, wurde in der Veranstaltungslocation Kraftverkehr ausgetragen. Wer zuhören und mitdiskutieren wollte, musste sich anmelden und aufs Losglück hoffen: Die etwa 300 Plätze, die man für Leser bereitstellen konnte, waren deutlich überbucht. Die zweite Diskussion wurde weit weniger überrannt: Mit Stadtsprecher Matthias Nowak, CVAG-Chef Maiwald und CWE-Geschäftsführer Sören Uhle war das Podium etwas weniger prominent besetzt, die Örtlichkeit mit dem Konferenzraum des smac entsprechend kleiner gewählt. Doch fanden sich zwischen Mitarbeiter*innen aus Stadtverwaltung, CWE, Kulturhauptstadt-GmbH und Journalist*innen aus dem Haus der Ausrichterin und von anderen Medien dennoch erkennbar viele freie Plätze. Das Thema, das hier verhandelt wurde: Wie gut ist Chemnitz aktuell auf die Kulturhauptstadt vorbereitet?
Es scheint, so viele Menschen interessiert es nicht.
Mit der Kulturhauptstadt, so hatte Freie Presse-Chefredakteur Torsten Kleditzsch die zweite Diskussionsrunde eröffnet, habe sich die Stadt eine große Aufgabe gestellt. Man wolle nicht so, wie man es in jedem Management-Seminar lerne, die eigenen Stärken stärken, sondern bei den Schwächen ansetzen: „Die Kulturhauptstadt setzt auf Befähigung und Mobilisierung.“ Liest man das Bidbook II, das Chemnitz den Kulturhauptstadt-Titel eingebracht hat, lässt sich das unterschreiben. Auf ein einzelnes riesiges Prestigeprojekt, für das viele Millionen Euro ausgegeben werden, wird bewusst verzichtet, obwohl man sich das eine oder andere hätte vorstellen können: eine mutige Entscheidung für ein Schauspielhaus am Schillerpark zum Beispiel, wie es eine Weile diskutiert wurde. Oder ein Anbau für die Kunstsammlungen Chemnitz hinter der Parteifalte, wie es der ehemaligen Generaldirektorin Ingrid Mössinger vorgeschwebt hatte. Stattdessen verteilen sich geplante Baumaßnahmen auf eine Vielzahl von Interventionsflächen in den einzelnen Stadtteilen – es sollen unterschiedlichste Orte der Begegnung, des Austauschs, der Kultur entstehen. Das entspricht der Idee der Bewerbung, die darauf setzt, die Chemnitzerinnen und Chemnitzer aus ihrer Zurückgezogenheit zurück ins öffentliche Leben zu holen – öffentliche Plätze, an denen man sich gern aufhält, sind dafür ein probates Mittel. „C the Unseen“ war das siegbringende Motto der Bewerbungsschrift, neben dem „Unsichtbaren Chemnitz“ immer auch übersetzt mit „die Unsichtbaren Chemnitzer*innen“ sichtbar machen zu wollen. Ja, sie sollten mobilisiert und mit einer „Werkstatt für Demokratie und Toleranz“ auch befähigt werden, an der Stadtgestaltung mitzuwirken.
STILLE MITTE UND UNGESEHENE AKTEUR*INNEN
Doch wer sind „the Unseen“? Verfolgt man die Diskussionen in der Stadtgesellschaft, erkennt man zwei unterschiedliche Ansätze. Ausgangspunkt für die Autor*innen des Bidbook waren die Demonstrationen in Chemnitz nach dem gewaltsamen Tod von Daniel H. am Rande des Stadtfests: Schnell mobilisierten Hooligans am ersten Tag, rechtextremen Kadern aus dem gesamten Bundesgebiet und besorgten Mitläufer*innen aus Chemnitz und dem Umland an den folgenden Tagen hatten sich nur wenige Chemnitzer*innen entgegengestellt. Die große Mehrheit der Stadtgesellschaft blieb an diesen Tagen still und unsichtbar, bildete die „schweigende stille Mitte“, die sich über das Bild von Chemnitz in den internationalen Medien beschwerte und von der man auch aus diesem Grunde hoffte, dass sie auf der Seite der Demokrat*innen stehen würde. Genau diese schweigenden Menschen gelte es künftig stärker zu mobilisieren zu demokratischem Diskurs und gesellschaftlicher Teilhabe. Sie sollten aus der Unsichtbarkeit hervorgeholt werden. Die andere Sicht auf „the Unseen“ kommt – man kann es grob zusammenfassen – von den wenigen, die 2018 doch auf die Straße gingen. Die nicht schwiegen, sondern sich engagierten. Weil sie sich schon lange engagieren, nicht nur gegen Rechtsextremismus und Antidemokratismus, sondern für Kunst und Kultur, Toleranz und urbanes Leben, für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Sie fühlten sich selbst ungesehen, zu wenig wertgeschätzt in ihrer Arbeit. Symbol dafür waren auch die Ereignisse 2018, als es die Staatsmacht kaum vermochte, sie bei ihren Aktionen gegen den Aufstand von rechts ausreichend zu beschützen. In das Motto der Kulturhauptstadt setzten sie die Hoffnung, nie wieder so hilf- und mittellos dazustehen wie im September 2018. Eine Erwartung, die nie erfüllt wurde.
Macht man sich diese unterschiedlichen Definitionen der „Unsichtbaren“ bewusst, erscheinen viele Entwicklungen der vergangenen Jahre in neuem Licht. Da sind beispielsweise die Bidbook-Prestigeprojekte der Apfelbaum-Parade „WeParapom“ und der „3.000 Garagen“, die die „schweigende Mitte“ zu Engagement und öffentlichem Auftritt bewegen soll. Beide sind noch nicht so recht ins Fliegen gekommen. Mit Entsiegelungs- und Baumpflanzaktionen an mal mehr, mal weniger prominenten Orten der Stadt wurde bei „WeParapom“ versucht, die Einwohner*innen zum Mitmachen zu bewegen. Vergessen wurde, die Engagierten ins Boot zu holen: Ob Stadtverband der Kleingärtner oder städtische Apfel-Expert*innen, sie alle klagten über mangelnde Rücksprache zum Projekt. „WeParapom“ wird nun im Kurs korrigiert. Als erster Schritt wurde unter großer medialer Anteilnahme die bisherige Kuratorin Barbara Holub von ihren Aufgaben entbunden. Ähnlich, so scheint es, läuft es bei den 3.000 Garagen: Zwar wurden Studierende ausgeschickt, die vorhandenen Garagenanlagen zu kartieren und zu katalogisieren. Auch gab es vor wenigen Wochen ein erstes, von den Kulturhauptstadtmacher*innen organisiertes Konzert in einem Garagenhof auf dem Kaßberg. Dass Jemand eine Garage öffnen will, um seine Bastelprojekte in einer Ausstellung zu präsentieren, hat man hingegen noch nicht gehört.
DIE SKINNERSCHE BLACKBOX
Doch „WeParapom“ und „3.000 Garagen“ haben die Aufnahme ins Bidbook geschafft und werden nun durchgezogen – im Gegensatz zu dutzenden Projekten derer, die zwar nicht zur „stillen Mitte“ zählen, sich aber ungesehen fühlen. Schon während der Bewerbungsphase ließ dieses Unsichtbarkeitsgefühl kaum nach. E-Mails mit Projektideen, die man an die Organisator*innen der Bewerbung schickte, blieben wochenlang unbeantwortet. Ideen versackten. Das Bewerbungskomitee wurde selbst zur „stillen Mitte“, es war wie die Skinnersche Blackbox: Man gab Signale hinein, irgendetwas passierte in der Box – und wenn man Glück hatte, stand man in der Bewerbungsschrift. Nun ist es selbstredend so, dass eine ganze Reihe von Projekten es ins Bidbook geschafft hat. Macht man sich die Mühe, die jeweiligen Projektverantwortlichen oder leitende Projektpartner*innen zu identifizieren, bleibt – zumindest innerhalb der Stadtgrenzen von Chemnitz – am Ende ein erstaunlich kleiner Kern von Akteur*innen: Mit einem halben Dutzend Projekten etwa sind die Kunstsammlungen Chemnitz vertreten, vor allem mit Ausstellungen. Die C3 – Chemnitzer Veranstaltungszentren ist dabei (unter anderem mit dem Hutfestival und der Mitmach-Messe makers united), die Chemnitzer Wirtschaftsförderungsgesellschaft CWE (unter anderem mit „Kosmos“), die Theater Chemnitz und ein Kreis von Engagierten, die sich aus Vereinsvertreter*innen von „Hand in Hand“ (unter anderem auch „Kosmos“, International Peace Ride, Festival „Pochen“) rekrutieren. Einer der Projektträger ist ein Verein, von dem in der Chemnitzer Kulturszene vor der Erstellung des Bidbooks noch nicht außerordentlich oft zu hören war – seine tragenden Mitglieder: Mitarbeiter*innen der CWE, der Kunstsammlungen, des Hand-in-Hand-Bündnisses. Der Kreis derer, die Eingang ins Bidbook gefunden haben, beschränkt sich damit im Wesentlichen auf städtische Gesellschaften und ein paar Hände voll von Akteur*innen der freien Szene. Die Stadt gibt die Zügel -oder wie es ein Vertreter der freien Szene schon bei der ersten Kulturhauptstadt-Veranstaltung gefordert hatte "den Schraubenschlüssel" – nicht aus der Hand und lässt Hilfe und Mittel überwiegend ihren etablierten Eigengesellschaften zukommen. Da weiß man, was man hat.
DAS INFORMATIONSDEFIZIT
Dem großen Rest der engagierten Stadtgesellschaft wurde zunächst gesagt, dass seine Ideen nicht verloren seien. Sobald sich eine Struktur für die Vorbereitung des Kulturhauptstadtjahres gefunden habe, werde man die große „Projektbox“ weitergeben, da würde alles nochmal aufgerollt. Statt Rückmeldungen gab es später dann einen stark überlasteten GmbH-Geschäftsführer Stefan Schmidtke, der Mühe hatte, die Bidbook-Projektträger*innen zusammenzuhalten. Die „Projektbox“ blieb verschollen. Stattdessen konnte man – hatte man Lust oder Mut noch nicht verloren – seine Projektideen ein weiteres Mal einreichen in Open Calls für Projekte, die das Bidbook ergänzen sollen. So mehrt sich der in den Medien wiedergegebene Unmut bei denjenigen, die sich gern beteiligen würden. Da sind diejenigen, die einfach ihre Ideen für die Stadtgesellschaft, zur Aktivierung der „stillen Mitte“ etwa, einbringen woll(t)en. Da sind zunehmend aber auch die, die qua Beruf mit Chemnitz 2025 irgendwie umgehen müssen: Weil sie als Veranstaltungsprofis etwa Großveranstaltungen begleiten können und wollen, derzeit aber noch keine Bühne, keine Absperrung, noch nicht mal ein Dixie-Klo bei ihnen angefragt ist. Weil sie als Gastgeber*innen in Hotels und Restaurants nicht wissen, ob und wenn ja, wann mit vermehrter Gästezahl zu rechnen ist. Weil sie als Werbegemeinschaft eines Einkaufszentrums heute schon die Budgets für 2025 planen, aber nicht wissen, was auf sie zukommt. Die große Verbrüderung der Kulturhauptstadt mit den vielen ungesehenen Engagierten, den vielen Chemnitzer Macherinnen und Machern, auf die das Bidbook so stolz ist, sie ist noch nicht gelungen. Das ist wohl einer der Gründe, warum die Freie Presse in ihrer nächsten Podiumsdiskussion fragen will: „Überholt die Region die Stadt?“ Der Eindruck der Medienmacher*innen: Im Umland funktioniert die Einbindung von lokalen Akteur*innen besser – und deshalb kommen die Projekte dort sichtbarer voran. Von ihrer Idee, die stille Mitte zu aktivieren, haben sich die Kulturhauptstadt-Macher*innen unterdessen – übrigens ohne große öffentliche Diskussion – verabschiedet. Man liest dies aus dem im Sommer erschienenen zweiten Evaluierungsbericht der europäischen Expert*innenkommission heraus, die den Weg von Chemnitz zum Kulturhauptstadtjahr kritisch begleitet. Die stille Mitte, so habe man nunmehr festgestellt, sei ein schwieriger Begriff: Niemand würde zugeben, dass er sich einer solchen stillen Mitte zugehörig fühlt. Deshalb lasse sich auch niemand so richtig adressieren. So steht die GmbH nun vor einem doppelten Dilemma: Für die einen Ungesehenen findet sie keine Ansprache. Und mit den anderen kommt sie nicht so recht zusammen. „The Unseen“ – sie bleiben ein Mysterium.