Chemnitz will Kulturhauptstadt werden – und bewirbt sich nicht nur mit seinen Museen und Theatern, sondern vor allem auch mit Projekten der Freien Kulturszene. Doch kann die überhaupt bis 2025 planen? Die freie Kultur lebt im Spagat zwischen gestalterischem Spielraum und finanzieller Unsicherheit.
Wie viel Sicherheit braucht es, um Kunst entstehen zu lassen? An dieser Frage scheiden sich die Geister – auch und gerade in der Freien Kulturszene in Chemnitz. Denn die einen brauchen ein hohes Maß an Sicherheit, etwa, um ihre bespielten Häuser zu halten – die anderen freuen sich daran, von Projekt zu Projekt zu arbeiten und schätzen ihre Flexibilität. Aus diesem Spannungsfeld erwachsen auch Herausforderungen im Umgang mit den Kulturschaffenden.
Definition – was ist die Freie Szene?
Zur Freien Kulturszene gehören sämtliche Künstler, Kulturschaffende und soziokulturelle Einrichtungen, die sich nicht direkt in Trägerschaft der Kommune, des Landes oder des Bundes befinden. Sie bieten ein „Zusatzangebot“, das über das Basisangebot der Stadt hinausgeht. Gleichzeitig fördert die öffentliche Hand die Freie Kulturszene, entweder pauschal durch eine Institutionelle Förderung oder für einzelne Projekte.
„Es gibt nicht eine Freie Szene in Chemnitz – es gibt mindestens fünf. Sie alle bringen ganz verschiedene Anforderungen und Bedürfnisse mit, was das Thema Sicherheit angeht“, erklärt Tobias Möller vom Netzwerk für Kultur und Jugendarbeit. Dieses hat es sich zur Aufgabe gemacht, Vereine und Initiativen in nicht-kommunaler Trägerschaft zu unterstützen, zu vernetzen und zu beraten. Zum Netzwerk gehören derzeit mehr als hundert Vereine der Stadt, es betreut und berät aber viele mehr. Außerdem leben und wirken viele Künstler und Kreative in Chemnitz, die auch ohne Vereine und Förderung auskommen. Wie Möller erklärt, schlage sich die Unterschiedlichkeit vor allem im finanziellen Bedarf der Akteure nieder. Die Stadt Chemnitz gibt 2020 fast drei Millionen Euro an die Freie Kulturszene. Das klingt nach viel Geld – da es jedoch an sehr viele Akteure geht und damit breit gestreut wird, bleibt bei den einzelnen Akteuren oft nicht viel hängen. „Die Förderquote der Stadt liegt bei 20 bis 30 Prozent“, sagt Tobias Möller. Manchen sei mit tausend Euro geholfen, für andere ist diese Summe ein Tropfen auf dem heißen Stein. Problematisch ist auch, dass in Chemnitz Kunst- und Kulturförderung in einen Topf geworfen werden. Vereine, die hauptsächlich von Menschen im Ehrenamt getragen werden, werden unter den gleichen Maßstäben gefördert, wie professionelle Künstler, die von ihrem Beruf leben.
Die Freelancerin: Gabi Reinhardt
Eine, die in ebendiesem Zwiespalt wirkt, ist Gabi Reinhardt. Sie ist Künstlerin durch und durch: Allein im ersten Quartal des Jahres bringt sie fünf Premieren auf die Bühne – oder besser gesagt: auf verschiedene Bühnen, denn Gabi Reinhardt bindet sich nur ungern an einen festen Ort. Die studierte Theaterpädagogin stammt aus Chemnitz und kehrte nach dem Studium in Berlin wieder in die Stadt zurück. „Ich habe im Studium so viele Richtungen kennengelernt, die wollte ich alle ausprobieren. In diesem Entwicklungsprozess befinde ich mich noch immer“, sagt sie. In der Art ihrer Arbeit ist sie dementsprechend breit aufgestellt. Als Theaterpädagogin betreut sie Theaterprojekte mit Schülern und Laienschauspielern, als Schauspielerin steht sie selbst auf der Bühne, zudem kreiert sie Kunstprojekte, schreibt seit einer Weile und ist auch als Moderatorin aktiv. Für viele ihrer Projekte erhält sie Förderungen aus verschiedenen Töpfen. „Irgendetwas kommt schon, ich bin da sehr entspannt“, sagt sie. Auch, weil sie gerade oft angefragt werde. Die finanzielle Unsicherheit macht ihr wenig zu schaffen. „Das Schlimmste, was passieren kann, ist Hartz 4“, so die Künstlerin. Damit würden die Grundbedürfnisse gedeckt, bislang habe sie es aber noch nie in Anspruch nehmen müssen.
Dennoch könnte in ihren Augen die Kunstförderung der Stadt optimaler laufen. „Es wäre schön, wenn sich die Chemnitzer Theaterszene weiter professionalisieren könnte“, sagt sie. Das gehe aber kaum, wenn Kunstprojekte und Kulturprojekte aus demselben Fördertopf kommen. Denn professionelle Kunstprojekte können in ihren Augen nicht auf Ehrenamt basieren. „Schließlich ist es ja unser Beruf, den wir ausüben“, sagt Gabi Reinhardt. Daher gründete sie mit einigen anderen Vertretern ihres Berufszweiges eine eigene Lobbygruppe – um mehr Aufmerksamkeit und Synergien zustande zu bringen.
Eine Lobby für die Off-Theater-Szene
Chemnitz hat eine reiche Theaterszene – auch über das städtische Theater mit all seinen Sparten hinaus. Um diese bekannt zu machen und ihnen auch eine stärkere politische Stimme zu verschaffen, wurde im Juli 2019 der „Verband der Freien Darstellenden Künste Chemnitz e.V“ gegründet. Ein Zusammenschluss von Künstlern und von Spielstätten. Zum Verein gehören unter anderem das Fritz Theater, das Zentrum für Darstellende Künste, das Off-Theater Komplex, aber auch das Weltecho. Die Devise der Interessenvertretung: „Komplizenschaft statt Konkurrenz“. Ziel ist es, gemeinsam bessere Spiel- und Arbeitsbedingungen für die Szene zu schaffen.
Kooperation geht Gabi Reinhardt übrigens nicht nur mit Vereinen, Häusern und Kulturschaffenden aus dem eigenen Fach ein. In „Titten, Thesen, Temperamente“ – ein Showformat, das dazu dient, Frauen in außergewöhnlichen Berufen auf unterhaltsame Weise ein Podium zu bieten, arbeitet sie etwa mit dem Haus Arthur zusammen.
Institution und Diskursplattform: das Haus Arthur
René Szymanski ist im Kulturhaus Arthur für den Bereich Öffentlichkeitsarbeit zuständig und kennt sich daher mit der Institutionellen Förderung bestens aus. Das Haus Arthur wird seit vielen Jahren als Ganzes, mit all seinen Sparten von der Stadt gefördert. „Wir sind eine offene Plattform, auf der die Themen dieser Zeit verhandelt werden können“, sagt Szymanski. Konkret heißt das, dass das Haus sowohl eigene Veranstaltungen organisiert, als auch anderen Akteuren Raum bietet. Dort finden Lesungen, Workshops, Diskussionsrunden, Theatervorführungen, Konzerte und vieles mehr statt. Wie Szymanski erklärt, wolle man generationsübergreifend niedrigschwellige Angebote aus sämtlichen Sparten der Kultur präsentieren. Das gehe aber nur, wenn sich das Haus eine gewisse Freiheit bewahrt – eben auch, indem es zwar von Fördermitteln abhängig ist, damit aber recht frei umgehen kam.
„Wir sind frei in der Auswahl unserer Themen“, sagt Robert Lässig, ebenfalls Mitarbeiter im Kulturhaus. Man müsse sich allenfalls an Förderrichtlinien halten und am Ende einen Nachweis erbringen. Zudem sei das Grundgesetz ein inhaltlicher Leitfaden. Durch die institutionelle Förderung muss das Haus einigen wirtschaftlichen Zwängen nicht nachgeben. „Dadurch sind wir so frei, besondere Veranstaltungen mit Bildungsauftrag anzubieten, was andere nicht können“ – etwa Lesungen mit gesellschaftsrelevanten Autoren, die die Organisatoren als wichtig erachten, von denen sie aber vorher nicht wissen, ob genügend Besucher kommen, dass sich die Veranstaltung auch wirtschaftlich trägt.
Natürlich müsse auch das Kulturhaus finanziell rechnen. Gelder werden jährlich beantragt, das bringt einiges an Unsicherheit mit sich. Denn die Fördermittelgeber können ihre Gelder jederzeit anderweitig ausschütten. Angst haben René Szymanski und Robert Lässig aber nicht, sie sagen, das Angebot des Hauses ist relevant für die Stadt und ihre Bevölkerung und daher wird es auch weiterhin gefördert. „Ich sehe die Stadt in der Pflicht, durch Förderung Angebote zu schaffen“, so Szymanski.
Hochkultur in Freier Trägerschaft: die Sächsische Mozart-Gesellschaft
Dass Förderungen nicht in Stein gemeißelt sind, weiß die Sächsische Mozartgesellschaft. Sie baut Brücken zwischen der städtischen Hochkultur und der Freien Szene. Die Sächsische Mozart-Gesellschaft ist aus einem Vakuum entstanden. Wie ihr Gründer und heutiger Vorstand Franz Wagner-Streuber erklärt, habe man in den frühen 1990er Jahren nach dem Wegfall der DDR-Veranstaltungsstrukturen neue Wege gesucht. Das Ziel: Konzerte mit Klassischer Musik außerhalb der städtischen Veranstaltungsflächen stattfinden zu lassen, etwa im Wasserschloss Klaffenbach. Daraus entstand dann der Verein Sächsische Mozart-Gesellschaft, der stetig wuchs (heute hat er knapp 250 Mitglieder) und nun nicht nur Musikveranstaltungen organisiert, sondern auch breite Mitmachangebote, unter anderem auch für Kinder schafft. Dafür ist die Mozart-Gesellschaft immer wieder auf Fördermittel angewiesen und kann nur so viel anbieten, wie sie auch finanziert bekommt. Wie Wagner-Streuber erklärt, bedient die Mozartgesellschaft noch heute Leerstellen, die das städtische Angebot nicht abdecken kann. Das gebe dem Verein eine gewisse Sicherheit.
Dabei sieht er vor allem Synergien und Kooperationsmöglichkeiten zwischen den einzelnen Sparten. „Schon 1990 wurde im Soziokulturellen Kulturzentrum ‚Kraftwerk‘ die Wechselwirkung zwischen Basiskultur und Hochkultur diskutiert“, sagt Franz Wagner-Streuber – seinem Verein sei daran gelegen, diese umzusetzen. Aktuell sei eine Veranstaltung in Planung, bei der professionelle Chöre und Laienchöre gemeinsam die 9. Sinfonie von Beethoven aufführen wollen. Auch gebe es aus der Zivilgesellschaft immer wieder neue Impulse, die die Mozart-Gesellschaft aufgrund ihrer Struktur begleiten und mit verwirklichen kann. Etwa im westsächsischen Waldenburg. Dort hat sich der Freundeskreis Waldenburg der sächsischen Mozartgesellschaft gegründet, ein Zusammenschluss kulturinteressierter Privatpersonen, die in ihrer Kommune ein kulturelles Vakuum füllen wollen, was von Stadtseite aus nicht bespielt wird. Sie schlossen sich zusammen, um gemeinsam Kultur und Konzerte in den Ort zu holen, die Mozartgesellschaft verfügt über die nötigen Strukturen, um das zu ermöglichen.
Brückenbauer: Das Netzwerk für Kultur und Jugendarbeit
Um Synergien, Vernetzung und Hilfe für die Sparten der Freien Szene bemüht sich auch der Verein Netzwerk für Kultur und Jugendarbeit. „Die Freie Kultur ist ein Zusatzangebot und die Stadt kann es sich aussuchen, ob sie es annimmt oder nicht“, sagt Tobias Möller vom Netzwerk für Kultur und Jugendarbeit. Daraus resultiere viel Unsicherheit auf Seiten der Kulturschaffenden: Denn ob die Stadt den Bedarf für das Angebot auch im kommenden Jahr noch sieht oder es zu bezahlen gewillt ist, ist unsicher. Um mehr Sicherheit zu schaffen, setzt Tobias Möller mit seinem Netzwerk auf Weiterbildung. Etwa, wenn es um das Schreiben von Fördermittelanträgen geht. Da gebe es noch viel Aufklärungsbedarf, auch was die Kommunikation mit Fördermittelgebern anbelangt. „Das sind ja die Leute, die weiterhelfen und das Geld an gesellschaftsrelevante Projekte abgeben wollen“, sagt er. Das Netzwerk für Kultur und Jugendarbeit tritt daher als Bindeglied zwischen Stadt und Kulturszene auf und übernimmt gleichzeitig Lobbyarbeit auf politischer Ebene. Dabei konnte es schon einige Fortschritte erzielen – etwa wenn es um das Budget von fünf Prozent des städtischen Kulturetats für die Freie Kulturszene geht.
Die Fünf-Prozent-Regel
Seit 2017 gehen fünf Prozent des Kulturetats der Stadt Chemnitz jährlich an die Freie Kulturszene. Der Stadtrat beschloss dies im Jahr 2015. „Seitdem hat sich das Kulturbudget der Freien Szene um fast 80 Prozent erhöht“, sagt Tobias Möller. 2020 schüttet die Stadt Chemnitz 2,9 Millionen Euro an 96 Institutionen und Projekte aus – die Summe der beantragten Gelder lag aber noch einmal deutlich höher, so dass etliche Projektanträge leer ausgingen oder nicht die volle Summe der beantragten Gelder erhielten.
Kritiker wenden zudem ein, dass die Stadt sich mit den fünf Prozent selbst belügt – erstens, weil ein Teil davon wie beispielsweise bei der Neuen Sächsischen Galerie an Mieten direkt in stadteigene Gebäude zurückfließt oder wie beim Fahrzeugmuseum für die Bewahrung städtischer Sammlungen ausgegeben wird. Zweitens, weil gefördete kulturelle Aktivitäten zum Beispiel der städtischen Wirtschaftsfördergesellschaft CWE (zum Beispiel KOSMOS Chemnitz oder ROCK AM KOPP) oder der ebenfalls städtischen Tagungszentren C³ (zum Beispiel HUTFESTIVAL) nicht oder nicht vollständig in die Berechnungsgrundlage einfließen. Und drittens, weil Kultursponsorings von Unternehmen mit städtischer Beteiligung wie GGG oder eins energie nicht bei der Berechnung berücksichtigt werden.
Neue Horizonte: Der Blick nach Europa
Die Chemnitzer Kulturlandschaft wächst, wird vielfältiger, professioneller. Zudem schafft die zunehmende internationale Vernetzung Herausforderungen – etwa, wenn es um die Bewerbung zur Kulturhauptstadt geht. Um auf europäischer Ebene mithalten zu können, braucht auch die Freie Kulturszene in Chemnitz mehr Sicherheit – da sind sich alle befragten Akteure einig.
Wie René Szymanski erklärt, braucht es beispielsweise mehr Planungssicherheit. „Projekte mit länderübergreifenden Kooperationen werden oft über Jahre hinweg geplant“, sagt er. Da sei es schwierig, dass Fördermittel nur von einem Jahr auf das nächste beantragt werden können. Sein Vorschlag: Vier-Jahres-Verträge in der institutionellen Förderung. Gabi Reinhardt und Tobias Möller halten es außerdem für sinnvoll, Kunst- und Kulturförderung voneinander zu trennen, um besser auf die Bedürfnisse der einzelnen Akteure eingehen zu können. Zudem wächst in der Freien Kulturszene das Bewusstsein, für die eigenen Bedürfnisse einzustehen. Die Interessenvertretung für Darstellende Künste ist eine Möglichkeit, manche Kulturschaffende finden in der Kreativwirtschaft im Verband „Kreatives Chemnitz“ ihre Lobby. Das Netzwerk für Kultur und Jugendarbeit will ebenso helfen, steht aber mit seinen städtisch finanzierten Arbeitsplätzen auch immer mal wieder in der Kritik, nicht die Hand beißen zu wollen, von der es gefüttert wird – und damit als Kulturlobbyist etwas zahnlos zu sein.
Doch wachsen und weiterhin Kultur ermöglichen, sie sogar stetig zu verbessern, das wollen sie alle. Am liebsten in einer Europäischen Kulturhauptstadt im Jahr 2025. saho