Von Volker Tzschucke
Fast alle Menschen, die damals schon geboren waren, wissen heute noch, wo sie am Tag des Mauerfalls waren. Oder am Tag, als Al-Kaida zwei Flugzeuge in die Twin-Towers stürzen ließ. Auch ich. Am 9. November 1989, einem Donnerstag, saß ich in einem Internatszimmer in Frankfurt/Oder, gar nicht so weit weg vom Weltgeschehen und doch ahnungslos. Erst am nächsten Morgen wurde an den Frühstückstischen getuschelt, dass über Nacht etwas Wichtiges geschehen sein musste. Am 11. September 2001 dann war ich in meinem WG-Zimmer. Diesmal bastelte ich – ja, mit Kleber, Schere und Papier – den „Wegweiser Germanistik“ zusammen, Handreichung für neue Germanistikstudierende der TU Chemnitz. Nebenbei lief der Fernseher. Die Flieger flogen, die Türme stürzten ein. Ans Weiterarbeiten war nicht zu denken, die Welt war in Aufruhr. Als ich am Abend mit meiner russischen Freundin telefonierte, merkte ich: Nicht die ganze Welt. In Russland war man solcherart Terrorakte gewohnt. Kein Grund zur Aufregung.
Wissen Sie noch, was sie am 28. Dezember 2019 getan haben? Kaum mehr als drei Jahre her – und Sie können sich nicht mehr erinnern? Ich startete am Vormittag vom Brühl mit Freunden zu einem Konzert im Aaltra. Mittagessen gab’s beim Vietnamesen in der Ermafa-Passage. Dort versagte mein Auto. Beziehungsweise die Kupplung: Ruckelnd ging es kurz zurück auf den Brühl – die Freunde zuhause absetzen, dann weiter zu A.T.U. hinterm Stadion. Von da zurück auf den Brühl. Am Abend zu Fuß ins Schauspielhaus im Park der Opfer des Faschismus. Danach zur Zenti am Tietz, dann mit dem Bus weiter Richtung A.J.Z. – noch ein Konzert. Spät nachts schließlich, es wird schon der 29. Dezember 2019 gewesen sein, zu Fuß Richtung zuhause. Ein letzter Zwischenstopp im Balboa. Dann schlafen.
Nein, ich bin keiner der Menschen, die intensiv Tagebuch schreiben und das Geschriebene als externalisiertes Gedächtnis nutzen. Ich nutze Google. Auf dem Rechner, als Suchmaschine, für E-Mails. Ich nutze Google Maps und manchmal logge ich mich per Google-Login in Apps ein, bei denen ich mir kein Extra-Passwort ausdenken möchte. Ich hinterlege Dokumente in Spreadsheets und nutze Google Drive, um große Datenmengen zu teilen. Google läuft auch auf dem Handy, ohnehin ist es eins mit Android-System. Auch der smarte Fernseher hat via Youtube einen direkten Draht zu Google.
Und deshalb weiß Google, wo ich am 28. Dezember 2019 war. Dass ich 5,6 Kilometer mit dem PKW gefahren bin, die letzten mit meinem damaligen Auto. 3,9 Kilometer war ich mit dem Bus unterwegs, und – ich höre und staune – in einer Stunde 16 Minuten insgesamt 6,9 Kilometer zu Fuß (Richtung Theater waren wir spät dran und auf dem Rückweg vom A.J.Z. war es ziemlich kalt – danke CVAG, danke Stadtrat für den nicht vorhandenen Nachtbus). An den Rest muss ich mich selbst erinnern, nehme ich an: Das Vormittagskonzert war der Solche-Frühschoppen. A.T.U. konnte mein Auto nicht retten. Im Theater gab’s ein Stück, in dem ein leerer Pool eine viel zu große Rolle spielte. Im A.J.Z. traten gleich mehrere Chemnitzer Bands auf. Welche? Ich müsste es googlen.
Genauso gut könnte mir Google sagen, was ich am Tag zuvor und am Tag danach gemacht habe – es waren eher inaktive Tage. Oder an jedem anderen Tag, seitdem ich ein Android-Phone oder zumindest Google Maps nutze. Google weiß, in welchem Monat ich in welchen Städten war (und vielleicht auch, warum?). Manchmal fragt mich Google, wie es mir an bestimmten Orten gefallen hat – meist antworte ich nicht, außer, ich will dem besuchten Ort etwas Gutes tun durch eine Empfehlung.
Wie gefährlich ist Google?
Wie gefährlich ist Google? Fragen wir die Konkurrenz, die Künstliche Intelligenz ChatGPT, die vom kalifornischen Open AI ins Netz gestellt wurde – finanziert unter anderem von Elon Musk und von Microsoft. ChatGPT, ist Google gefährlich?
„Es gibt kein grundsätzliches Risiko oder Gefahr, die von der Nutzung von Google ausgeht. Google ist eine der am häufigsten genutzten Suchmaschinen und bietet viele nützliche Funktionen und Dienste wie Google Mail, Google Drive und Google Maps.
Allerdings gibt es auch einige Bedenken hinsichtlich der Datensammlung und des Datenschutzes bei der Verwendung von Google. Google sammelt Informationen über die Suchanfragen und das Nutzerverhalten, um personalisierte Werbung zu schalten und seine Dienste zu verbessern. Einige Menschen sind besorgt darüber, dass diese Informationen möglicherweise für unerwünschte Zwecke wie Überwachung, Identitätsdiebstahl oder gezielte Werbung genutzt werden könnten.“
Über personalisierte Werbung wäre ich manchmal gar nicht so unfroh. Zum Beispiel, wenn ich über mehrere Tage hinweg ein günstiges Hotel suche. Leider kommen die besten Werbungen immer erst dann, wenn ich mich bereits entschieden, bestellt und bezahlt habe. Auch sonst funktioniert der Algorithmus nicht immer zuverlässig. Manchmal schickt mir Google unaufgefordert Sehempfehlungen für YouTube – leider ignoriert es, dass auch meine Lebensgefährtin meinen Account gelegentlich nutzt, so ist nicht jeder Tipp ein Treffer. Es ist wie bei Spotify: Einmal auf einer Party das Handy in die falschen Hände gegeben, schon ist die Musikauswahl auf Wochen verdorben…. Auch bekomme ich aktuell häufig Push-Nachrichten zu Live-Tickern von Fußballländerspielen in Afrika. Es muss damit zu tun haben, dass ich mich während der letzten WM zu häufig für die Ergebnisse von Kamerun und Marokko interessiert habe.
Öffentliche Spuren
Was also weiß Google über mich? Und was glaubt es zu wissen? Einen ersten Überblick gibt es, wenn ich mich selbst google – am besten im anonymen Modus meines Browsers. 4.420 Ergebnisse nach 0,46 Sekunden. Was ich zu sehen bekomme, sind die öffentlichen Spuren, die ich in den vergangenen 25 Jahren mal mehr, mal weniger bewusst hinterlassen habe: die aktuelle Arbeitsstelle ganz vorn dran, auch andere mitgegründete Unternehmen auf der ersten Seite. Magazine wie „Chemnitz Inside“, mein Engagement bei „TUN!Chemnitz“, Fotos von Veranstaltungen, die ich moderiert habe. Aber auch: brach liegende Accounts bei Twitter und Instagram. Jury-Tätigkeiten. Halbe Lebensläufe. Jahrzehnte alte studentische Hausarbeiten, die Amazon, Medimops oder der Deutsche Apothekerverlag (WHY?) als Fachbücher verkaufen. Ältere und jüngere journalistische Texte. Ab Trefferseite acht die „wilden Jahre“: 2005 die Aktion „Weg mit Kevin“ gegen das neue Gesicht auf der Kinderschokolade. 1999 der Studentenprotest gegen die Abschaffung der Lehramtsstudiengänge in Chemnitz (Und ja: Wir hatten schon damals recht und die damalige Zukunft hat es bewiesen! Und zwar in beiden Fällen.). Das Netz vergisst nichts. Nur eine Einschränkung erscheint: „Einige Ergebnisse wurden möglicherweise aufgrund der Bestimmungen des europäischen Datenschutzrechts entfernt.“, meldet Google.
Vermutlich könnte ChatGPT veritable Biografien über mich schreiben.
ChatGPT, was weißt du über Volker Tzschucke aus Chemnitz?
„Volker Tzschucke aus Chemnitz ist mir nicht bekannt, da ich keine umfassende Datenbank über Personen führe und keine Möglichkeit habe, lokale oder spezifische Informationen zu einzelnen Personen zu sammeln. Es ist jedoch möglich, dass Volker Tzschucke eine private Person ist oder keine öffentliche Bekanntheit erlangt hat.“
So wird es sein. Noch werden nicht alle öffentlichen Daten auch zur Formulierung von Persönlichkeitsprofilen genutzt – oder zumindest nicht einfach so weitergegeben. Da bräuchte es wohl erst einen Wikipedia-Eintrag über mich.
Doch sind die öffentlichen Spuren natürlich nur die halbe Wahrheit über Googles Sammelfreude. Wer tiefer einsteigen will, muss Google selbst fragen. Über das Google-Konto ist es möglich – man kann sich seine gespeicherten persönlichen Daten aus rund 50 mit Google verbandelten Apps zusenden lassen. Die Anfrage geht schnell, die Antwort hingegen lässt auf sich warten: „Google erstellt eine Kopie der Dateien aus 47 Produkten. Dieser Vorgang kann Stunden oder Tage dauern. Sie erhalten eine E-Mail, sobald der Export abgeschlossen ist.“
Einen Vorgeschmack gibt eine Übersicht im Google-Konto – sechs Google-Dienste habe ich kürzlich verwendet, Mails und Youtube, Maps und Drive, Play und Kalender. Über 16 Gigabyte Daten habe ich „für mich“ in meinem Konto gespeichert, darunter 128 freigegebene Dateien in Drive, 26.462 Mails im Posteingang (die meisten gelesen), 13.038 gesendete Mails, einen Entwurf. Google Play meldet 163 installierte Apps über alle meine Geräte hinweg, zuletzt kam ein QR- und Barcode-Scanner hinzu. Google kennt auch einen Blog-Eintrag aus 2013, eine Aufgabenliste aus 2019 (ich hoffe, alle To Dos sind abgehakt), 13 Google-Alerts, also automatisierte Suchanfragen, sechs verbundene Analytics-Konten. 435 Google-Kontakte, 4.237 weitere Kontaktmöglichkeiten – Namen, Mail-Adressen, Telefonnummern. Wer sind all diese Leute – und was weiß Google, außer ihrer Irgendwie-Verbundenheit mit mir, über sie?.
Nochmal zur Datenabfrage. Schneller geht’s, wenn ich mich auf einzelne Apps konzentriere. Die Anfrage bezüglich Google Maps wird innerhalb von 90 Minuten beantwortet. Die Download-Datei umfasst gerade einmal 25 MB, doch will das nichts heißen – die Daten sind in platzsparenden json-Dateien verpackt. Was drin steht, muss mir mein Unternehmensprogrammierer zeigen, der damit umgehen kann. Die Anzeige ist über eine Webseite wie jsonhero möglich, aber unübersichtlich. Das Ergebnis: Die „Überwachung“ meines Standorts ist seit Juli 2013 aktiv, Monat für Monat kann ich sehen, wo ich war, an welchen Orten ich mich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit aufgehalten habe, welches möglicherweise alternative Besuchsorte waren, wie lang ich dort war, welche Routen ich mir habe anzeigen lassen. Zehn Jahre, ein Tagebuch. Tausende Orte, hunderte Bewegungen. Übersichtlicher zu finden über das Google-Angebot Timeline. Auffällig: Ein Jahr, 2018, fehlt. Auch mehrfache Aufenthalte in Rumänien und Italien, eine Reise nach Lettland sind nicht abgebildet? Warum? War ich da schneller unterwegs als Google mich einfangen konnte? Mit einem anderen Google-Account? Ganz definitiv habe ich dort Maps benutzt. Dennoch: Es ist eine faszinierend detailreiche Expedition in die eigene Vergangenheit mittels nur einer App. Eine Warnung.
ChatGPT, wie kann ich das Datensammeln von Google verhindern?
Es gibt einige Schritte, die Sie unternehmen können, um das Datensammeln durch Google zu reduzieren oder zu verhindern:
Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass einige dieser Maßnahmen möglicherweise die Funktionalität einiger Google-Dienste einschränken können.
Behaupte jemand, dass die KI unausgewogen antwortet! Bequemlichkeit oder Datenschutz – das ist hier die Frage. Zum Schluss deshalb nochmal ChatGPT, ein abituraufsatzmäßigeres Fazit kann ich selbst nicht schreiben:
„Es ist wichtig, dass Nutzer sich bewusst sind, welche Informationen sie preisgeben und wie sie ihre Privatsphäre schützen können. Google bietet jedoch auch eine Reihe von Datenschutzeinstellungen und -optionen, die Nutzer nutzen können, um ihre Daten zu kontrollieren und ihre Privatsphäre zu schützen. Insgesamt ist es wichtig, verantwortungsvoll mit seinen Daten umzugehen und sich über die Vor- und Nachteile der Nutzung von Google und anderen Online-Diensten im Klaren zu sein.“
PS: Bis zum Redaktionsschluss sind die vollständigen von Google gespeicherten Daten noch nicht eingetroffen.
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