Warum es uns zum Training in den Park treibt
Es dürfte ein rekordverdächtig heißer September-Vormittag sein. Gegen zehn Uhr steht das Thermometer bei an die 30 Grad, die Sonne knallt vom Himmel. Am Fitness-Turm an der Ahornstraße herrscht trotzdem Betrieb. Erst ein, dann zwei, dann drei Nutzer absolvieren hier ihr Fitness- und Krafttraining. Individuell, aber nicht allein. Urbane Natur statt Fitnessstudio. Das ist ein Trend.
Der 25-jährige Basti (seinen Familiennamen will er nicht in der Zeitung lesen) ist der erste vor Ort. Mit dem Motorrad kommt der Chemnitzer angerollt – so wie drei Mal jede Woche. Manchmal ist er allein, manchmal mit ein paar Kumpels hier, je nachdem, was die Schichtarbeit erlaubt. Eine Stunde nimmt er sich mindestens Zeit, in der Gruppe auch mal länger. „Die Möglichkeit, hier die Geräte kostenfrei zu nutzen und frei zu trainieren, ist schon ziemlich cool“, sagt er. Das sei besser als im Studio. In seiner Jugendzeit war er aktiver Ringer, inzwischen treibe er Sport hauptsächlich, um sich fit zu halten. „Ich mache Calisthenics und Cross-Fit“. Calisthenics wurde Anfang des aktuellen Jahrtausends in New York erfunden. Konzept ist es, für Fitness- und Kraftübungen vor allem das eigene Körpergewicht zu nutzen – und einen Park aus Stangen, der entfernt an Klettergerüste erinnert, als diese noch nicht wie Piratenschiffe, Elefanten oder Lokomotiven aussehen mussten. Zusätzliche Gewichte, Seile oder Bälle braucht man für die Übungen nicht. Klimmzüge in allen Varianten, Armbeugen, Hüftaufschwünge, Liegestütze, Kniebeugen und ähnliche turnerische Übungen gehören zum Trainings-Repertoire, hinzu kommen Elemente aus der Akrobatik. Das macht das Training so einfach. Der Name der Sportart beschreibt vor allem das Ziel, das man anstrebt. Er ist abgeleitet von den griechischen Adjektiven „kallos“ für „schön“ und „sthenos“ für „stark“. Ähnlich verhält es sich beim CrossFit. Eigentlich ist das der Name einer Sportgeräte- und Sportstudiofirma, der sich ein wenig verselbständigt hat. Auch hier geht’s um einen Zuwachs an Beweglichkeit, Ausdauer, Schnelligkeit oder Geschicklichkeit – hier werden neben dem Eigengewicht aber auch Geräte genutzt (sonst wäre das ein eher schlechtes Geschäftsmodell): Hanteln, Gymnastikringe, auch hier Klimmzugstangen. Die kanadischen Streitkräfte oder die königlich-dänischen Leibgardisten nutzen CrossFit-Geräte und -Übungen im Rahmen ihres Fitness-Trainings – und eben auch jede Menge Menschen wie Basti.
ZUM NEIDISCHWERDEN
Oder wie der wohl mindestens 65-jährige Herr, der nach ihm an den Turm herantritt, sich die höchste horizontale Stange greift und mal eben aus dem Hang heraus einen Hüftaufschwung hinlegt. Zum Neidischwerden. „Öffentlicher Raum ist immer auch sozialer Raum. Wer sich hier bewegt, bekommt häufig ein direktes oder indirektes Feedback und generiert somit Beachtung oder soziale Anerkennung durch andere“, meint Prof. Torsten Schlesinger. An der TU Chemnitz leitet er die Professur Sozialwissenschaftliche Perspektiven von Sport, Bewegung und Gesundheitsförderung. Er und seine Mitarbeitenden untersuchen die Kopplungen zwischen Sport und Gesellschaft, bringen mit Projekten wie „Mo-Ko-Fit“ aber auch Sport und Bewegung zu älteren Menschen, ein Beitrag zur kommunalen Gesundheitsförderung in Chemnitz. Insgesamt, so Schlesinger, gäbe es in der deutschen Bevölkerung gegenläufige Trends: auf der einen Seite Menschen, die sich sehr viel bewegen oder Sport treiben, auf der anderen Seite das komplette Gegenteil. Das ziehe sich durch alle Altersgruppen, Alter sei nicht mit Inaktivität gleichzusetzen. Er weiß, dass es zum Sporttreiben unterschiedliche Motivationen gibt. In den ersten Lebensjahrzehnten spiele die Idee des Wettkampfs eine größere Rolle, in der zweiten Lebenshälfte eher die Gesunderhaltung des eigenen Körpers. Dazu muss man nicht unbedingt Mitglied in einem Verein oder Fitnessstudio sein. „Sich draußen in der Natur zu bewegen, ist für viele Menschen heute ein wichtiger Motivator. Genauso wie das Gruppenerlebnis.“ Dass man sein Fitnesstraining nach draußen verlegt, dazu wurde auch in den 1970er und 1980er Jahren schon aufgerufen. Damals wurden in der alten Bundesrepublik Hunderte Trimm-Dich-Pfade angelegt, auf denen sich die Westdeutschen ihre Wirtschaftswunderbäuche wegtrainieren sollten. Mit der heutigen Situation sei das aber nicht vergleichbar, findet Professor Schlesinger: „Wir haben heute sehr viel vielfältigere Angebote und Kombinationsmöglichkeiten. Das Ganze ist zwar ein großes Gesamtphänomen, aber viel individueller in der Ausgestaltung.“
„Sich draußen in der Natur zu bewegen, ist für viele Menschen heute ein wichtiger Motivator.“
Prof. Dr. Torsten Schlesinger, Professur Sozialwissenschaftliche Perspektiven von Sport, Bewegung und Gesundheitsförderung an der TU Chemnitz
KONKURRIERENDE NUTZUNGEN
Ältere Menschen greifen zu E-Bike oder Nordic-Walking-Stöcken, "Middle Ager" gehen zum gemeinsamen Yoga in den Park oder versammeln sich in Laufgruppen, Kinder und Jugendliche sind auf Skateboards oder BMX- Rädern unterwegs. All diesen Konzepten sei aber gemeinsam, „dass man sich vom Wettbewerbsgedanken ein Stück weit entkoppelt und sich neue Bewegungsräume sucht“, sagt Schlesinger. Das könne durchaus auch Mal zulasten vorheriger Raumnutzender gehen, wenn Skater ihre Tricks auf Bahnhofsvorplätzen oder in Fußgängerzonen üben und Mountainbiker ihre Downhill-Routen über Wanderwege oder Kuhweiden legen. Umso wichtiger ist es deshalb, dass von öffentlicher Seite auf den Outdoor-Trend reagiert wird – und am besten nicht nur mit Verboten, sondern mit lenkenden Angeboten. In Chemnitz ist das der Fall. Parksommer-Yoga im Stadthallenpark oder Nachtskating-Läufe existieren bereits seit einigen Jahren. Auch die Dirt-Bike-Strecke, Parkour-Kurs-Elemente und der Basketball-Platz im Concordia-Park – aktuell im Ausbau – sind vor allem für Kinder und Jugendliche wichtige Anlaufpunkte: kostenlos, ohne Konsumzwang und mit gemäßigter Aufsicht – ein Ort, wie ihn sich der Nachwuchs regelmäßig in Diskussionen oder Befragungen in viel größerer Zahl wünscht. Nicht immer übrigens gehen diese Aktivitäten am organisierten Vereinssport völlig vorbei, wie der IF Urban Sports e.V. in Chemnitz beweist: „Parkour lernst du nicht bei Youtube, sondern indem du trainierst“, heißt es auf dessen Webseite in der Werbung fürs Vereinstraining. „Vor allem, wenn es um aktive Nachwuchsgewinnung und -training geht, aber auch um die Teilnahme an Wettkämpfen, sehen wir bei vielen moderneren Sportarten den Weg in die Vereinslandschaft“, hat Daniel Fugmann, Geschäftsführer des Stadtsportbundes, beobachtet. Auch Frisbee-Spieler, Snowboarder oder Pétanque-Sportler sind schon in Vereinen und darüber hinaus im Stadtsportbund organisiert.
ÖFFENTLICH UND PRIVAT
Doch zurück zu den öffentlichen Angeboten: Inzwischen entstehen auch immer wieder neue Plätze für Sport-, Kraft- und Fitness- Übungen, in Chemnitz insbesondere bei der Gestaltung der Interventionsflächen. So wird der Lessingplatz auf dem Sonnenberg neben Spielgeräten auch mit Reck, Leiter und einer Kletterwand ausgestattet – und erhält auch zwei Tischtennisplatten. Im Park Morgenleite unweit des Vita-Centers wurden elf Bewegungselemente zur sportlichen Betätigung installiert. Am Wasserschloss Klaffenbach wurde nicht nur der Spielplatz erweitert und ein „Grünes Klassenzimmer“ im neuen Kulturpark angelegt, sondern auch ein Trimm-Dich-Pfad (da ist er wieder!). Auch in einer der aufwändigsten Interventionsflächen, der Stadtwirtschaft, soll es in einem der öffentlich zugänglichen Höfe bald eine Calisthenics-Anlage geben. „Die Idee entstand im Rahmen der Beteiligungsformate, bei denen überlegt wurde, wie die Stadtwirtschaft künftig genutzt werden soll“, sagt Octavio Gulde, der den Prozess als Projektmitarbeitender begleitet hat: „Ein Sportverein, der sich in der Stadtwirtschaft einmieten will, hatte die Idee für die Geräte im öffentlichen Raum – und in den Runden mit den Anwohnenden aus den umliegenden Stadtvierteln hat sie sich verfestigt und wurde dann weiter vorangetrieben.“ So wird die neue Anlage mithilfe öffentlicher Mittel entstehen. Beim Fitness-Tower an der Ahornstraße war das anders. Hier war es private Initiative, die das Angebot aus dem Boden wachsen ließ. Dahinter steckt Jan Schönherr, Betreiber zweier Fitnessstudios in Zschopau und Olbernhau und in Chemnitz mit dem Fitmaker-Club Anbieter für Einzeltrainings mit Fitness- Coaches. Dass er einen kostenlosen öffentlichen Ort zum Training geschaffen hat, lag vor allem an den Beschränkungen der Corona-Pandemie: „Die Fitnessstudios waren geschlossen – die Menschen wollten aber trotzdem trainieren“, beschreibt er die damaligen Zustände. Er selbst sei ein Fan von Outdoor-Training – ein öffentlicher Fitness-Tower lag deshalb nah. „Wir haben das mit Hilfe einiger Sponsoren gestemmt, die zum Beispiel die Betonverankerungen und den Bodenbelag übernommen haben. Und die Anbieter der Türme haben damals glücklicherweise auch mit Aktionspreisen gelockt.“ Ergänzt hat Schönherr einen Schrank mit Fitnesszubehör, den man sich auf Wunsch freischalten lassen kann. So sind dem regen Sporttreiben zwischen Calisthenics und CrossFit wenig Grenzen gesetzt.
Auf sein Geschäftsmodell zahle der Turm nicht unbedingt ein, sagt Schönherr, auch wenn er ihn selbst regelmäßig für Individualtrainings mit seinen Klienten nutzt. Aber er sei froh, diesen Ort geschaffen zu haben: „Hier ist eigentlich immer etwas los, selbst bei Regen, selbst bei Schnee.“ Die Nutzenden kommen gezielt zum Training, verbringen hier ihre Mittagspause mit ein paar Übungen oder machen Halt, wenn sie auf dem nahen Kappelbach-Radweg unterwegs sind. Kinder klettern, die Eltern trainieren. Sie kommen allein oder in Gruppen, quer durch alle Altersklassen und Nationalitäten. Nicht alle könnten sich ein Fitnessstudio leisten oder einen Individual-Coach. So mancher aber vielleicht schon. „Ich mag es einfach, Leute in Bewegung zu bringen“, sagt Jan Schönherr. vtz
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