Drei Jahre sind sie her, die „Ereignisse von Chemnitz“. Nachdem ein junger Mann deutsch-kubanischer Abstammung am Stadtfestwochenende von Asylbewerbern angegriffen und getötet wurde, brach sich die Wut Bahn. Wut über Merkels Flüchtlingspolitik wohl vor allem – und über ihre tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen Auswirkungen. Die Welle des Protests erregte internationale Aufmerksamkeit. Sie erschreckte, weil erst 800, dann 6.000, später 11.000 Menschen laut Polizeiangaben an rasch aufeinanderfolgenden Trauermärschen teilnahmen, darunter bekennende Neonazis, rechts-nationale Politiker – und jede Menge „Volk“, dem egal war, mit wem es marschierte. „Warum immer wieder Sachsen?“ wurde deutschlandweit gefragt.
„Warum so wenig Widerspruch, so wenig Gegenrede?“ habe ich mich gefragt, der sich auf einer der hm, schwieriges Wort, Gegen-Demonstrationen ziemlich allein gefühlt hat. Warum nicht auch hier 2.000, 10.000, 25.000 Menschen, warum also nicht einfach jedes Mal: mehr. 70.000 für ein kostenloses Konzert mit den Toten Hosen oder Kraftklub auf die Beine zu bringen – ja, gut. Gut fürs Image. Anzeigen mit #ChemnitzIstWederGrauNochBraun in bundesweiten Tageszeitungen – wichtig, dass es jemand sagt!
Doch wie oft sagen wir eigentlich nichts? Wer sollte denn etwas sagen und in welchen Situationen? Wer ist denn da, um etwas zu sagen? Was also ist los mit uns Sachsen? Ich habe diese Fragen in den vergangenen drei Jahren ziemlich häufig diskutiert, mit ganz unterschiedlichen Menschen. Ich habe ein paar Bücher dazu gelesen, Erklärungsversuche in Zeitungen und Zeitschriften, wissenschaftliche Studien. Eine Antwort, die mich wirklich überzeugt, habe ich nicht gefunden.
Weil: Kann es sein, dass ein Versprechen der Immunität gegen Rechtsextremismus so sehr wirkt, dass wir selbst dran glauben? Kann es sein, dass die Umbrucherfahrungen der Wende uns besonders sensibel und zugleich aufmüpfig gegen neue Wandlungen der Welt machen? Treibt wirklich Arbeitslosigkeit uns in die Fänge von Populisten? Kann es sein, dass die eigene Verlustangst dazu führt, dass man vollkommen empathielos auf einer Demonstration in Dresden Mittelmeerflüchtlingen „Absaufen! Absaufen!“ wünscht? Und führt uns all unser Verständnis für solche traumatisierenden Erfahrungen dahin, nicht mehr gegen solche Auswüchse aufzustehen?
Einmal Zivilgesellschaft, bitte
Als reflektierter Mensch entwickelt man die eine oder andere Theorie. Meine lautet: All das ist irgendwie richtig. Biedenkopfs Satz hat möglicherweise ein Nicht-genau-hinschauen wachsen lassen, wenn sich Extremisten breit machten. Die Wendeerfahrungen waren für viele Menschen frustrierend, vor allem, wenn man Negativerlebnisse auch noch zu den ursprünglich erhofften Verbesserungen ins Verhältnis setzt: Nichts ist schlimmer als enttäuschte Erwartungen. Wer sich einmal aus dem Elend herausgekämpft hatte, hatte sicher recht auf die Angst, erneut hineingestoßen zu werden.
Und doch sollte es ja neben all dem auch die geben, die zur Widerrede ansetzen. Zumindest kenne ich das so: Als in der unterfränkischen Kleinstadt, in der ich Abitur gemacht habe, in den frühen 1990er Jahren Diskussionen über den Bau einer Moschee entfacht wurden, trat die NPD auf den Plan, um sich des Protests zu bemächtigen. Allein: Sie hatte weder Follower noch Erfolg. Dem kleinen Trupp Kurzrasierter stand ein deutliches Mehr an Menschen gegenüber, die dieses Auseinanderdividieren der Gesellschaft durch simple Parolen nicht wollte. Schülerschaft und Lehrerschaft des kleinen Gymnasiums standen recht geschlossen Seite an Seite, obwohl sie in der Schule nur selten einem Muslim begegnet waren und sich recht eigentlich auch nicht für Moscheen interessierten. Die Polizei stellte beim vorgeblich spontanen, immer friedlichen Gegenprotest zwar – Pflicht ist Pflicht – wegen ungenehmigter Demonstrationen die Personalien sicher, ließ die Sache aber nach kurzen Vernehmungen schnell versanden. Der Pfarrer läutete spontan die Kirchenglocken, um Hassreden zu übertönen. Die Zivilgesellschaft war da.
Und doch sollte es ja neben all dem auch die geben, die zur Widerrede ansetzen. Zumindest kenne ich das so: Als in der unterfränkischen Kleinstadt, in der ich Abitur gemacht habe, in den frühen 1990er Jahren Diskussionen über den Bau einer Moschee entfacht wurden, trat die NPD auf den Plan, um sich des Protests zu bemächtigen. Allein: Sie hatte weder Follower noch Erfolg. Dem kleinen Trupp Kurzrasierter stand ein deutliches Mehr an Menschen gegenüber, die dieses Auseinanderdividieren der Gesellschaft durch simple Parolen nicht wollte. Schülerschaft und Lehrerschaft des kleinen Gymnasiums standen recht geschlossen Seite an Seite, obwohl sie in der Schule nur selten einem Muslim begegnet waren und sich recht eigentlich auch nicht für Moscheen interessierten. Die Polizei stellte beim vorgeblich spontanen, immer friedlichen Gegenprotest zwar – Pflicht ist Pflicht – wegen ungenehmigter Demonstrationen die Personalien sicher, ließ die Sache aber nach kurzen Vernehmungen schnell versanden. Der Pfarrer läutete spontan die Kirchenglocken, um Hassreden zu übertönen. Die Zivilgesellschaft war da.
Wo ist sie in unserer Region? Können wir Parolen mehr als – nun ja – Parolen entgegensetzen? Augustusburgs Bürgermeister Dirk Neubauer glaubt, wir Sachsen hätten verlernt, den Menschen – also uns selbst – Engagement abzuverlangen. Eine „Politik des Kümmerns“, die sich um jeden Problemfall auf mindestens ministerialer Ebene bemüht und Lösungen im Zweifel mit Fördergeld herbeiführt, habe in den vergangenen 30 Jahren dafür gesorgt, dass sich die Menschen in ihre privaten Nischen zurückgezogen haben. Er als Bürgermeister, so beschreibt er es in seiner aktuellen Streitschrift „Rettet die Demokratie!“, reagiere auf Bürgeranfragen, die mit „Die Stadt muss mal…“ beginnen, immer häufiger mit der Antwort: „Ich bin die Stadtverwaltung – du bist die Stadt“ – und fordert die Mitarbeit des Beschwerdeführers ein, wann immer dies möglich erscheint. Er lässt Bürger Verschönerungsprojekte vorschlagen, für die es auch Budget gibt, lässt sie Stimmen sammeln für ihre Ideen – und lässt sie dann auch machen. Und offenbar können sie das auch.
Rückzug aus der Fläche
Doch würde ich noch weitergehen als Neubauer. Ich glaube (ein Teil meiner persönlichen Theorien): Nicht nur hat der Freistaat den Sachsen das Selbermachen vermiest. Er hat der Fläche auch Stück für Stück die Personen genommen, die prädestiniert sind zum Engagement. Ein erstes Beispiel: Mit jeder Schließung einer Schule ist dem Land auch ein Quell der Zivilgesellschaft genommen worden. Ich will die Lehrerschaft nicht zu sehr loben, doch in ihrem besten Teil ist sie es, die Schüler zum Widerspruch reizt, die sich selbst engagiert und elterliches Engagement organisiert – also eben zum Ausprobieren und Machen motiviert. Doch die Zahl der Lehrer im Freistaat ist seit dem Schuljahr 1993/1994 von knapp 40.000 auf aktuell 31.256 gesunken, die Zahl der Schulen von 2300 auf 1800 zurückgegangen. 500 Ausgangsorte für zivilgesellschaftliches Engagement sind damit verloren gegangen (die Zahl wäre noch größer, hätte es nicht eine Vielzahl von privaten Schulneugründungen gegeben) – und die Wege zu den verbliebenen wurden länger.
Solche Daten lassen sich auch für andere Bereiche öffentlicher Daseinsvorsorge finden: Die Zahl der Amtsgerichte in den Gerichtsbezirken Chemnitz und Zwickau ist zwischen 2001 und 2019 von elf auf neun, die der Zivilkammern an den dortigen Landgerichten von 23 auf 18 gesunken. Der öffentliche Dienst in Sachsen beschäftigte 1997 noch etwa 270.000 Menschen, 2002 noch 229.000 und 2019 nur mehr 206.000 Menschen – ein Rückgang um ein Viertel.
Die örtlichen Honoratioren…
Natürlich lassen sich diese Zahlen mit dem Rückgang der Bevölkerung in den vergangenen Jahren erklären: Der Staat muss sich verschlanken, wenn die Bevölkerungszahl sinkt. Doch führen diese Einschnitte immer wieder dazu, dass ein Stück Zivilgesellschaft zurückgefahren wird. Zumal auch nicht-staatliche Akteure hier mitmachen: 2039 Allgemeinmediziner verteilten sich 1991 laut Landesärztekammer über den Freistaat – 2020 waren es 20 Prozent weniger, und wer noch in den Beruf strebte, siedelte sich oft lieber in der Großstadt an. Die Zahl der Pfarrerinnen und Pfarrer der evangelisch-lutherischen Landeskirche sank zwischen 1992 und 2020 um ein Drittel – und immer mehr Kirchgemeinden schließen sich zu Pfarrspielen zusammen, um eine einigermaßen angemessene seelsorgerische Betreuung zu bewahren. Und auch die Medien machen mit beim Rückzug: Betrieb ein Radiosender wie PSR bei seinem Antritt in Sachsen noch mehrere Regionalstudios, ist heute noch eins erhalten. Und die Freie Presse verweist zwar weiterhin auf 19 Lokalausgaben, indes: Angesichts eines Auflagenrückgangs von 663.700 im Jahr 1989 auf 205.610 im vergangenen Jahr wurden Lokalredaktionen zusammengelegt. Um die eigene Digitalisierung voranzutreiben, so bekannte es die langjährige Redakteurin und heutige Betriebsrätin Eva Prase im Frühjahr dieses Jahres bei einer Podiumsdiskussion der Evangelischen Akademie Sachsen, werde aktuell „Manpower aus dem traditionellen Geschäft abgezogen“ – sprich: Die Präsenz vor Ort sinkt. „Ein Artikel, der gut läuft, wird deshalb auch woanders gedruckt“, erklärte sie. Es entstünden Hybridausgaben – und damit ein Minus an wirklich lokaler Berichterstattung.
Verstehen wir uns nicht falsch: Keinem Freistaat, keiner Kirche, keinem Medium soll hier ein Vorwurf gemacht werden, dass sie auf wirtschaftliche Notwendigkeiten reagiert haben. Ich suche nach einer Erklärung, warum sich in Sachsen so selten Gegenrede formiert, wenn Menschen verhaltensauffällig werden. Der Bürgermeister, der Pfarrer, der Lehrer, der Landarzt – das waren früher die, die man „die örtlichen Honoratioren“ nannte, weil sie den Ton im Dorf bestimmten. Doch wer nicht mehr da ist, kann an Debatten nicht teilnehmen. Er kann im Kleinen nicht widersprechen, kann nichts Größeres organisieren. Er kann nicht aufstehen, wenn mal wieder irgendwer verhaltensauffällig wird. Und da ist noch nicht von all den jungen Menschen die Rede gewesen, die seit 1990 vor allem die ländlichen Regionen Sachsens verlassen haben, weil sie sich anderswo ein besseres Leben und berufliche Chancen erhofften. Hätten sie eine Zivilgesellschaft formen können?
Und nun?
Ein kleiner Abstecher in einem größeren Interview mit Frank Vogel, dem Landrat des Erzgebirgskreises, bestätigt mir diesen Eindruck. Er erklärt sich die Zurückhaltung „seiner“ Erzgebirger in punkto Corona-Schutzimpfung, die ja in Hinsicht auf Protestformen und Protestnarrative Ähnlichkeiten zu früheren Krisen aufweist, nicht mit grundsätzlicher Renitenz (das dürfte er natürlich auch nicht sagen). Stattdessen: „Wir sind ein sehr bodenständiger Menschenschlag und auch zurückhaltend Neuem gegenüber.“ Wünschen würde er sich, dass darüber stärker debattiert wird: „Hier bei uns werden Diskussionen weniger offen ausgetragen“, hat er festgestellt. „Ich bin überzeugt, dass ein übergroßer Anteil der Bevölkerung verurteilt, wenn Corona-Leugner oder Impf-Gegner über den friedlichen Prostest hinausgehen. Das wird aber zu wenig laut gesagt. Manchmal fände ich ein Mehr-nach-außen-Treten wünschenswert. Da bräuchte es mehr positive Vorbilder.“
Hoffnung setzt Vogel auf die jüngeren Generationen, auf Zuzug: „Da bin ich grundsätzlich optimistisch“. Der Freistaat könnte eine positive Entwicklung befördern, indem er neue Landesbehörden und Institutionen häufiger im ländlichen Raum ansiedeln würde: „Ein geplantes Holzzentrum darf gern in die Region kommen, wo auch der meiste Wald steht“, findet er.
Dirk Neubauer wünscht sich in seiner bereits zitierten Streitschrift „Rettet die Demokratie!“ die Rückverlagerung von Entscheidungskompetenzen auf die lokale Ebene, natürlich verbunden mit einer besseren finanziellen Grundausstattung der Kommunen. Das würde dafür sorgen, dass der Bürger wieder mehr Mitspracherecht fühlt – und dieses auch wahrnimmt. Und sich so wieder stärker mit Demokratie und Gesellschaft identifiziert.
Ich weiß nicht, auch nach drei Jahren, woher das Problem kommt und wie es zu lösen ist. Vermutlich ist auch hier wieder jeder einzelne kleine Ansatz ein richtiger Schritt. Dass es diese Ansätze gibt, zeigt dieses Magazin auf fast jeder Seite. Ein kleines bisschen haben also meine Kollegen und ich mir ein bisschen neuen Mut zugeschrieben. vtz