Von Volker Tzschucke
Ende September ist es auch in Südeuropa um 19.45 Uhr schon dunkel. Bahnhöfe wirken dann immer etwas unheimlich, erst recht, wenn man sich nicht auskennt. Auch der des italienischen Gorizia. Vor dem Bahnhofsgebäude finden sich viel Dunkelheit, ein Imbiss im Feierabend, ein Fahrkartenautomat, der nicht kooperiert, und einige Bussteige. Doch der letzte direkte Bus hinüber in die slowenische Schwesterstadt Nova Gorica ist vor einer knappen Stunde abgefahren. Google-Maps schlägt den italienischen Stadtbus vor, um bis zur Grenze zu gelangen. Der erste verweigert die Mitnahme – ohne Ticket aus dem unkooperativen Automaten läuft nichts, Zahlung im Bus ist nicht möglich. Also noch ein Versuch am Automaten, auf gut Glück irgendwelche Fahrkarten. Der zweite Fahrer achtet nicht groß drauf. Ihm geht’s eher um seinen Feierabend. Zu zweit stehen die deutschen Touristen im Bus, der eigentlich schon ins Depot will. Doch der Fahrer ist nett, auch wenn man sich nicht versteht. Während er durch italienische Altstadt-Straßen düst und dabei alle Haltestellen ignoriert, verweist er auf touristische Highlights: ein Castello hier, die Piazza della Vittoria dort, Restaurants mit gefüllten Terrassen. Ein Anblick, wie man ihn aus den nahen Großstädten Triest oder Udine kennt. Es geht bergab und bergab und bergab, bis der Fahrer schließlich hält: Bis hierhin darf er, kann er, will er. Da ist der Bahnhof von Nova Gorica. Dort ist die Grenze. Noch knapp zwei Kilometer bis zur Unterkunft. Zu Fuß.
Das slowenische Nova Gorica ist – wie Chemnitz – 2025 Kulturhauptstadt Europas. Die Bewerbung, bei der man sich unter anderem gegen die Hauptstadt Ljubljana durchsetzte, betonte die Gemeinsamkeit mit Gorizia, der italienischen Schwester. Früher gab es mal nur eine Stadt hier, bis heute kann man einen ihrer Namen, den aus der habsburgischen Zeit, fast überall finden: Görz. Als nach 1945 westliche und östliche Staatenblöcke gebildet wurden, zogen die Alliierten im „Frieden von Paris“ auch eine Grenze durch Görz, entlang einer Bahnlinie. Das Bahnhofsgebäude in der Unterstadt wurde Jugoslawien zugeschlagen. Östlich davon gab es viel Görzschen Friedhof und wenig Stadt. Die wurde dann errichtet: Nova Gorica, Grundsteinlegung 1948, die jüngste Stadt Sloweniens.
DER GANZ EIGENE CHARME SOZIALISTISCHER MODERNE
Sozialistische Reißbrett-Städte haben ihren ganz eigenen Charme, den man erst für sich entdecken muss: breite Straßen, Häuserkarrees mit riesigen Innenhöfen, fragwürdige Einkaufsalleen. Dazwischen öffentliche Gebäude, bei denen geprotzt wird, egal ob Post, Theater oder Rathaus. Viel Kunst im öffentlichen Raum, viel Stadtgrün. Und Bausünden aus Vor- und vor allem Nachwendezeiten, als plötzlich alles erlaubt war. Wer Eisenhüttenstadt kennt oder das Chemnitzer Stadtzentrum, weiß, wovon die Rede ist. Doch ist Nova Gorica eher die Puppenstubenversion davon, gerade einmal 12.000 Einwohner leben heute in der Kernstadt. Dafür ist die dann ziemlich gut ausgestattet – neben dem Theater auch mit einer Universität, mit Stadtbibliothek und mehreren Museen, mit Krankenhaus, Stadion, Sporthallen. Und einer Tourist-Information. Die ist erster Anlaufpunkt am nächsten Vormittag. Weil die einzige Servicekraft gerade telefoniert, erstmal umschauen: Es gibt viele „Slowenien“-Souvenirs, die mit dem „LOVE“ im englischen Namen spielen. Kulturhauptstadt-Mitbringsel – dafür scheint’s zu früh zu sein. Doch immerhin eine Reihe von Faltblättern, die Stadt und Region vorstellen und das 2025er-Vorhaben grob skizzieren. Als das Telefonat beendet ist, bekommt man die volle Aufmerksamkeit. „Was kann man erleben in Nova Gorica?“ – Stadt und Natur mit ihren vielen Radwegen, vielleicht mit einem Leihfahrrad. Mehrere Museen entlang der Grenze, die die Spaltung der Stadt und die Entstehung von Nova Gorica beleuchten. Das Kloster Kostanjevica auf einem Hügel über der Stadt, als Grabstätte vieler Bourbonenkönige ein Klein-St. Denis und Heimat der Bourbonenrose. „Und wo ist die Kulturhauptstadt 2025 schon spürbar?“ – Dafür gehen Sie doch mal zum Xcenter. Und heute Abend zum Lichtfestival in die Innenstadt. Und wie lang bleiben Sie? Schade, dann verpassen sie das Konzert von Patti Smith, das in ein paar Tagen in Gorizia stattfindet.
GO BORDERLESS
„Go borderless! Go green! Go share! Go Europe!“ lautet das Motto von GO!2025, wie die Kulturhauptstadt-Kampagne offiziell tituliert ist. All das kann man im kostenlosen ÖPNV oder auf dem Leihfahrrad erspüren. Die Radinfrastruktur ist bestens ausgebaut in Nova Gorica und wird auch von allerhand Joggern, Inline-Skatern und Roller-Fahrenden genutzt. Spiel- und Sport- und Trimm-dich-Plätze warten am Wegesrand. Schnell ist man hinaus aus der Kernstadt, wieder am Unterstadt-Bahnhof direkt an der Grenze. Hier verschwimmen die Vororte der beiden Städte und nur die Bepflanzung lässt ahnen, ob man sich noch in Slowenien oder doch schon wieder in Italien aufhält: Wildes Durcheinander vieler mediterraner Arten herrscht auf italienischer Seite, die sozialistischen Herrscher hingegen bevorzugten die Alleebepflanzung mit nur einer Baumart. Am Ufer des Soca geht es entlang, schon bald hat man die berühmte Solkan-Brücke im Blick, die als größte gemauerte Eisenbahn-Bogenbrücke der Welt gilt. 2025 soll hier ein Konzert des Pianisten Alexander Gadjiev stattfinden, Sohn der Stadt mit Geburtsjahr 1994, Preisträger renommierter Wettbewerbe, als Solist weltweit gefragt und Botschafter von GO!2025. 2023 ist die Brücke erst einmal ein Ort zur Umkehr, zurück zum unterstädtischen Bahnhof und zum Europaplatz davor, durch dessen Mitte die Grenze verläuft. Ein Bein nach Osten, ein Bein nach Westen, schon hat man das obligatorisch-grenzüberschreitende Erinnerungsbild. Am Abend dann in die Innenstadt. Über dem zentralen Platz hängen zwei Monde, der echte und ein künstlicher – die Hauptinstallation des intermedialen Festivals R.o.R., die sich schon vor der offiziellen Eröffnung sichtlich größter Beliebtheit erfreut. Die Eröffnungszeremonie verfolgt man dann bei Angus-Burger vom anrainenden Restaurant aus, es spielt: eine Blaskapelle, es redet: nun ja, es ist nicht zu verstehen. Die einheimische Bevölkerung jedenfalls ist zuhauf erschienen, feiert die Bläser und applaudiert den Redenden und begutachtet in den folgenden Stunden die Lichtinszenierungen, die Künstler aus ganz Europa für sie vorbereitet haben. „An einem normalen Donnerstagabend wäre es hier nicht so voll“, weiß Mojca Stubelj Ars, die das Festival mit vorbereitet hat. Sie und das von ihr geleitete Xcenter, mal FabLab, mal FoodLab, mal Ausstellungs-, mal Workshop-Raum, spielen im Bewerbungs- wie im Umsetzungsprozess des Kulturhauptstadt-Projekts keine ganz unwichtige Rolle. Das Organisationskomitee nutzt Teile der Räumlichkeiten. Stubeljas war schon mit Delegationen in Chemnitz, um am Maker-Festival teilzunehmen und Kontakte zu knüpfen. Vor wenigen Tagen erst hatte sie im Xcenter die Chemnitzer Bürgermeisterin Dagmar Ruscheinsky und einige Vertreter des Maker e.V. zum Gegenbesuch zu Gast, man hat sie verpasst wie Patty Smith. Am nächsten Tag wird sie einer Gruppe exkursierender Studierender aus dem österreichischen Graz mehr über das Kulturhauptstadt-Projekt berichten – eine Gelegenheit, der man sich gern anschließen könne.
VISION VOM ALL MEN’S LAND
Die Studierenden bekommen es dann gleich mit mehreren Projektvertreter*innen zu tun. Da ist zunächst Tea Podobnik, Mitarbeiterin der Stadtverwaltung, die noch einmal von der Geschichte der geteilten Stadt Görz berichtet. Die Verbindungen zwischen dem italienischen Gorizia und dem slowenischen Nova Gorica seien nie ganz abgerissen, über die Grenze hinweg habe es auch in Zeiten der Teilung einen regen ökonomischen Austausch gegeben. Seit 2004, Sloweniens Beitrittsjahr zur EU, arbeiten die Städte verstärkt institutionell zusammen, seit 2011 haben sie eine strategische Partnerschaft in Bereichen wie Stadtplanung, Gesundheit, Energie, Sport und Kultur mit gemeinsamen Planungsstäben. Und auch, wenn sich so manches grenzüberschreitende Projekt wie ein „perpetuum mobile negative“ angefühlt habe – die gemeinsame Bewerbung als Europäische Kulturhauptstadt sei nur folgerichtig gewesen. Den Gewinn des Titels haben die Bürgermeister 2020 gemeinsam am Europaplatz an der Grenze gefeiert, die, Corona sei Dank, zu diesem Zeitpunkt gerade neu – und beinahe fester als zu Ostblockzeiten – verschlossen war. „Unser Bürgermeister musste am kommenden Tag eine Strafe zahlen“, erinnert sich Podobnik. Auch Simon Mokorel, einer der Hauptautoren des Bidbooks von GO!2025, erzählt den Studierenden vom Spirit der Bewerbungsphase und den Schwierigkeiten der Jetzt-Zeit in der immer noch geteilten Stadt. Während der private Grenzverkehr flutscht, wenn nicht gerade Pandemie ist, während Slowenen in Gorizia wohnen und arbeiten, Italiener in Nova Gorica Pizzerien eröffnen und ihre Kinder in die besser ausgestatteten slowenischen Schulen schicken, wird es schwierig, sobald es offizieller wird. Italienische und slowenische Taxis zum Beispiel dürfen nur in jeweils „ihrem“ Teil der Stadt verkehren. Dass man sich etwa vom italienischen Bahnhof abholen ließe, um nach Nova Gorica zu kommen: unmöglich. Auch Kindergartengruppen dürften nicht einfach mal so auf den Spielplatz auf der anderen Seite der Grenze – aus Versicherungsgründen, das müsste schließlich als Auslandstripp bewertet werden. Und italienische Untertitel im Stadttheater von Nova Gorica? Technisch nicht machbar, Herr Nachbar. Schon der Europaplatz hat zwei Namen, die Italiener nennen ihn „Piazza Transalpina“. All dies, so Mokorels Vision, müsste sich mit 2025 ändern, indem man aus der trennenden Grenze ein zwei Millionen Quadratmeter großes, verbindendes „All Men‘s Land“ schaffe, ein Areal, in dem nationale Gesetze von europäischen Regeln abgelöst sind.
AM EPICENTER
An dieser Vision will Architektin Saša Dobričić mitarbeiten. Nach 20 Jahren Leben in Venedig ist sie seit zwei Jahren zurück in Slowenien. „Wir bauen keine große Infrastruktur, sondern wollen mit vielen kleinen Interventionen die Städte und ihre Einwohner wieder verbinden.“ Der unterstädtische Bahnhof etwa sei in seiner Architektur klar nach Italien ausgerichtet, von Nova Gorica trennen ihn ein gutes Dutzend Gleise. Die gilt es nun erstmal per Unterführung zu überwinden. Und weil es an verbindenden Orten fehle, baue man ans Ende der Unterführung gleich noch ein Amphitheater. Es ist ein Projekt, für das man die slowenische Staatsbahn gewinnen konnte, allein wäre das aus dem 20-Millionen-EuroBudget der Kulturhauptstadt kaum zu stemmen. Hinzu kommen entlang der Grenze ein Baumwipfelpfad, Basketballund Spielplätze, der weiter ausgebaute Radweg und aufgewertete Museen zur Geschichte der Teilung und zum einst florierenden Schmugglerwesen. Aus ehemaligen Bahnhofslagerhallen zwischen Nova Gorica und Gorizia wird das Welcome-Center für all die erwarteten Gäste der Kulturhauptstadt, zugleich ein „European Center of Interpretation the last Century“. Das ergibt in der Abkürzung ein ganz wunderbares Wortspiel: EPICenter. Anderthalb Jahre vor dem Start des Titeljahres lässt sich all dies vor allem erahnen, braucht es noch einiges an Fantasie, um sich den Bahnhofsvorplatz als flirrendes Zentrum einer wiedervereinigten Stadt, einer Kulturhauptstadt Europas vorzustellen; doch die Protagonisten versprühen Zuversicht. Nur hinter vorgehaltener Hand bekommt man von der Unsicherheit zu hören, ob die zugesagten Mittel vom slowenischen Staat in vollem Umfang fließen werden – nach den Fluten des Sommers 2023 mit landesweit zerstörter Infrastruktur könnte es auch andere Notwendigkeiten geben als die Finanzierung eines Kulturhauptstadt-Programms. Doch man wird sehen. Eine Neuauflage des Besuchs jedenfalls ist fest vorgenommen. Diesmal geht’s mit dem letzten Bus von Nova Gorica nach Gorizia, rechtzeitig, bevor es dunkel ist.
REISETIPPS
Nova Gorica liegt unmittelbar an der slowenisch-italienischen Grenze gegenüber der italienischen Stadt Gorizia (Görz) in Friaul-Julisch Venetien. Anreisen per Bahn erfolgen über Udine (zum Beispiel mit dem Nachtzug aus München) und Gorizia oder über Ljubljana (zum Beispiel mit dem Nachtzug aus Prag). Wer fliegen will, sollte Venedig oder Ljubljana ansteuern, dann weiter per Bahn-Direktverbindung nach Gorizia oder Nova Gorica. Die nächsten Fernbus-Haltestellen liegen in Udine, Triest und Ljubljana. Unterkünfte gibt es sowohl auf slowenischer wie auf italienischer Seite in unterschiedlicher Qualität gleichermaßen in Hotels wie in Ferienwohnungen. Bereits seit dem 1. Januar 2007 zahlt man in Slowenien mit dem Euro.