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Die Kugel ins Rollen bringen: Wie kleine Unternehmen unsere Sicht auf die Welt ändern

Wer würde nicht gern einen funktionierenden Kernfusionsreaktor entwickeln? Oder: Ein Haus mit allem Komfort entwerfen, das man sich trotzdem noch leisten kann? Oder: Ein Autobatterie entwickeln, die tausende Kilometer reicht, aber nicht tausende Kilogramm schwer ist? Dass wir unsere Lebensweise, unseren Ressourcenverbrauch und damit auch unsere Wirtschaft hier und da und mindestens ein kleines bisschen ändern müssen, um auch künftigen Generationen ein Leben auf der Erde zu ermöglichen, ist klar. Auf die großen Änderungen – Stichwort: Technologieoffenheit – werden wir dafür aber wohl noch ein wenig warten müssen. Aber: Man kann ja auch im Kleinen etwas ändern. Das zeigen die drei Geschichten auf den kommenden Seiten. Es sind Geschichten von Transformationen: Kleinen Veränderungen im Denken. Kleine Veränderungen im Menschen. In denen, die produzieren – und denen, die die Produkte nutzen. Kleine Veränderungen in der Art, wie wir leben. Und nix wird dabei schlechter.

Transformation im Kinderzimmer

Alles begann mit einer Vision – einer von schönem, hochwertigem und vor allem nachhaltigem Spielzeug für Kinder. Eine Murmelbahn für die damals zweijährige Tochter, aus Holz, stabil und ohne schädliche Stoffe, die sollte es werden. Nun ist Tino Hartrampf kein gelernter Konstrukteur oder Handwerker, sondern Sozialpädagoge. Aber einer mit Visionen. Und so entwickelte der gebürtige Brandenburger vor acht Jahren die Idee immer weiter, selbst Holzspielzeug zu bauen und zu produzieren. Vor vier Jahren gründete er schließlich mit Freund und Tischlermeister David Müller das Start-up „Baumkinder“. Spielzeug aus dem nachhaltigen Rohstoff Holz, zu fairen Preisen und in der Region produzieren – das ist seitdem das Ansinnen der „Baumkinder“. Die Produktpalette des Chemnitzer Unternehmens umfasst neben Greiflingen oder Beißringen für Babys und Kleinkinder vor allem Holzbaukästen und Murmelbahnen, die immer wieder erweitert werden können. Eine Murmelbahn ist derzeit auf der Chemnitzer Werkschau zu sehen.

Baumkinder

„Wir haben eine neue Generation von Holzbausteinen entwickelt“, ist sich Tino Hartrampf sicher. Die soll bestenfalls einen Wandel im Kinderzimmer bewirken: Weg von billigem Plastik-Schrott aus dem Ausland, hin zu hochwertigem Holzspielzeug aus der Umgebung, das sich gut anfühlt, langlebig und frei von Schadstoffen ist und durch zeitloses Design auch das Grundbedürfnis nach Beständigkeit erfüllt. Das Holz bei „Baumkinder“ – Ahorn und Buche aus PEFC-zertifizierten, deutschen Sägewerken – wird weder mit Farben oder Lacken noch mit Verbundstoffen bearbeitet. Es sei somit komplett natürlich und daher ideal für kleine Kinderhände, so Hartrampf weiter. Durch ein spezielles Stecksystem können die Teile alle miteinander verbunden werden. „Wir wollten ein Holzspielzeug kreieren, das Kinder über mehrere Entwicklungs- und Interessenphasen hinweg begleiten kann“, ergänzt Kompagnon David Müller. Produziert wird das Spielzeug von „Baumkinder“ in einer Werkstatt in Burgstädt. Dort werden aus meterlangen Holzbahnen am Ende kleine Spieleteile. Bei der Produktion legen Müller und Hartrampf Wert auf einen guten Mix aus traditionellen und zeitgemäßen Herstellungsprozessen. Die Idee für etwas Neues wandert vom Kopf direkt in den PC. „Alle Produkte entstehen als 3D-Versionen zuerst auf dem Rechner“, erklärt Tino Hartrampf. Dem Holz eine „neue, krasse Form zu geben“, das sei letztlich alles durch Probieren entstanden. Soll ein Modell schließlich vom Computer auf die Werkbank, wird es ganz klassisch gesägt, besäumt und abgerichtet und abschließend mit moderner Lasertechnik verfeinert. Das traditionelle Spielzeughandwerk erlebt so einen Wandel und geht mit dem digitalen Zeitalter mit, ohne seinen Wert zu verlieren. Im Gegenteil: Entgegen den transformatorischen Zwängen, denen auch dieser Wirtschaftszweig unterworfen ist, schafft das Murmelspiel aus Holz Ruhe und Entschleunigung. Es ist zeitlos und führt den Benutzer ein Stück weit zum Ursprungsgedanken von Spielzeug zurück – beobachten, spielen, versinken.

Tino Hartrampf hat sich das Know-how für seinen Zweig in der produzierenden Wirtschaft komplett autodidaktisch beigebracht: Vom Sozialpädagogen zum Konstrukteur, Tischler, Betriebswirtschaftler und letztlich auch Marketingspezialisten. Zusammen mit seiner Freundin Josephine Leistner und seinem Kompagnon David Müller investiert er alle verfügbare Zeit, körperliche und materielle Ressourcen, um am Markt bestehen zu können. „Die Balance zu halten zwischen einem coolen Produktdesign, unserem Anspruch an Nachhaltigkeit, aber eben auch einer nötigen Wirtschaftlichkeit, das ist die größte Herausforderung“, sagt der 42-Jährige. Unermüdlich kämpft das Team darum, den Prozess des Wandels im Kinderzimmer voranzutreiben und dort ein Bewusstsein für Qualität und Nachhaltigkeit zu schaffen. Das tun die „Baumkinder“ unter anderem durch Beteiligungen an Ausstellungen, Aktionen oder aber auch durch neue Hingucker. So sind sie jetzt mit ihrer neuesten Kreation in der Chemnitzer Touristeninformation am Markt zu finden: „Wir haben Karl Marx vom philosophischen Gedankenspieler zum Murmelbahnspieler gemacht“, sagt Josephine Leistner. Eine Schreibtisch-Murmelbahn für die kreative Pause, mit MarxKonterfei und dem Slogan „C it rolls“ soll nicht nur Freude und Spaß bereiten, sondern auch auf das kleine Unternehmen der Kreativwirtschaft aus Chemnitz aufmerksam machen.

„Die Balance zu halten zwischen einem coolen Produktdesign, unserem Anspruch an Nachhaltigkeit, aber eben auch einer nötigen Wirtschaftlichkeit, das ist die größte Herausforderung.“

Davis Müller, Baumkinder GmbH

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In Kreisläufen denken

Wenn Ina Goetz mit ihrem Projekt Undoyarn unterwegs ist, wie derzeit auf der Werkschau in Chemnitz, kommt sie schnell mit Leuten ins Gespräch. „Meist, weil ich gefragt werde, was Undoyarn eigentlich heißt. Der Name ist ein echter Türöffner geworden“, erzählt sie. Der Begriff setzt sich aus dem Englischen „undo“, was auftrennen oder auseinandernehmen heißt, und „yarn“, dem Garn, zusammen. Die Chemnitzerin will mit Undoyarn einen Beitrag zur Ressourcenschonung leisten, indem sie alte Textilien aus Strick auftrennt und das Garn wiederverwendet.  Ina Goetz stammt gebürtig aus dem Erzgebirge. 2019 kam sie nach Chemnitz. „Ich wollte schon immer in die Großstadt. Chemnitz war meine persönliche Transformationsstadt, hier hat sich viel für mich verändert“, erzählt die 56-Jährige, die zuerst den Beruf der Krankenschwester lernte, später ein Studium der Pflegewissenschaften und noch später eines der Psychologie anschloss. Heute unterrichtet sie zum einen an einer Berufsfachschule. Den Rest ihrer Zeit, Kraft und momentan auch finanziellen Ressourcen widmet sie ihrem Herzensprojekt Undoyarn.

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„Als ich nach Chemnitz gezogen bin, habe ich mir bewusst den Stadtteil Sonnenberg ausgesucht. Ich wollte mich irgendwie irgendwo sinnvoll beteiligen“, erzählt Ina Goetz. Im Jahr 2020, als die Coronapandemie zum Zuhausebleiben zwang, begann sie, Dinge auszuprobieren – etwas einsticken, häkeln, ganz ins Blaue hinein. Textilbegeistert ist sie seit Kindheitstagen. Durch dieses Tun ist sie schließlich aufs Auftrennen gekommen. Ein alter Schal war das erste, das sie auseinandernahm. „Ich dachte mir dann sofort: Wieso nicht die alte Wolle aufarbeiten und aus Altem Neues machen, wie cool!“, erinnert sich Ina Goetz. Schnell kam ihr durch ihre pädagogische Ader auch ein Bildungsauftrag in den Sinn. „Wir sollten den Leuten klarmachen: So kann man mit Ressourcen umgehen und muss es in Zukunft sicher auch“, erklärt sie. In ihren Augen hätten alle Käufer*innen von Kleidung auch eine Verantwortung. Das Ganze sei ein Kreislauf. Ina Goetz hat diesbezüglich bereits im Rahmen des Projekts „Flick dein Zeug“ regelmäßig eingeladen, alte Kleidung zu reparieren. „Das ist letztlich ein transformatorischer Prozess: Das, was früher funktioniert hat aus Mangel an anderen Möglichkeiten, das kann heute mit ganz anderem Bewusstsein, nämlich der Ressourcenschonung, wieder funktionieren“, ist sie sich sicher. Zum Tode verurteilte Pullover, Schals, Jacken und Co. bekommen dank Undoyarn ein neues Leben. Und wie funktioniert das Ganze praktisch? Per Hand trennt Ina Goetz Maschen gestrickter Kleidungsstücke auf, von der Mütze über den Schal bis hin zum Pullover oder Kleid. Etwa eine Stunde benötigt sie, um einen Pulli aufzutrennen. Der Faden wird aufgewickelt und mit einer Haspel zu Strängen geformt.

Danach wäscht sie das Garn gründlich und trocknet es. Anschließend wird es geglättet und zu neuen Knäulen gewickelt. Das Ergebnis ist ein einsatzbereites Garn, das sich nur geringfügig von Neuware unterscheidet. In Zusammenarbeit mit einem großen Textilsortierer nutzt Ina Goetz regelmäßig Textilien, die eigentlich für die Vernichtung vorgesehen waren. Ihr Ziel hat sie stets vor Augen: nachhaltige Lösungen für die Schnelllebigkeit der Textilbranche bieten. „Ich sehe es auch so: Energie geht nicht ver- loren. So ein Pullover trägt diesbezüglich Einiges in sich. Das Auftrennen kann so- mit auch einen psychologischen Effekt haben – Maschen können Erlebtes lösen oder weiterführen“, erzählt Ina Goetz. Mit dieser Überzeugung, dem Handwerk und dem Ge- danken der Nachhaltigkeit führt sie auf der Markusstraße 21 des Chemnitzer Sonnenberg ihr Textilatelier. Sie nimmt Strickspenden an, bietet einen Auftrennservice für Strickstücke, Workshops, Themenabende und Infoveranstaltungen an.

Klasse statt Masse produzieren

Seit er denken kann, hegt er eine Begeisterung fürs Radfahren. „Das ging als Kind los und später als Sportler in diversen Radrennen weiter“, erzählt Ingo Berbig, der auch Trainer für den Radsportverein Chemnitz ist. Nun schlägt sein Herz aber nicht nur für den Sport an sich, sondern auch für die Konstruktion und Mechanik, die dahintersteckt. Ganz konkret gilt sein Faible den Speichen eines Fahrrads. Ingo Berbig hat an der TU Chemnitz Textil- maschinenbau studiert und war speziell einige Zeit beim Sächsischen Textilforschungsinstitut (STFI) tätig. Als Teil einer Forschungsgruppe beschäftigte er sich mit textilen Maschinenelementen, konkret hochfesten Faserstoffen. Irgendwann fragte der Professor, ob die Mitglieder der Forschungsgruppe nicht mal etwas entwickeln wollen, das sie selbst spannend finden. „Da kam mir die Idee: In einem Fahrrad steckt doch auch Potenzial für Textiles“, erzählt Ingo Berbig. Ganz speziell widmete er sich der Speiche. Statt wie herkömmlich aus Stahl, sollte sie aus textilem Material bestehen – einem festen Garn. Sein wissenschaftliches Know-how verknüpfte er mit der Leidenschaft für den Radverkehr.

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Garn hat viele Vorteile, erläutert der Fachmann. Zum einen ist eine Garnspeiche deutlich leichter als eine aus Stahl. Sie wiegt nur etwa die Hälfte von einem bereits leichteren Stahlmodell. Zum anderen ist die Garnspeiche top, was die Dämpfung betrifft. „Stahl hat eine langanhaltende Schwingung, was beim Fahren nicht günstig ist. Unsere Garnspeichen haben eine eingebaute Federung, die eine Art Eigendämpfung ermöglicht“, erklärt Berbig. Ein dritter Vorteil des Garns liege in seiner Elastizität. Während sich Stahl verformen, locker werden und schließlich brechen kann, funktioniert das Garn elastisch – bei starker Belastung zieht es sich dahin zurück, wo es hingehört.Für die textile Speiche wird ein hochfestes Polyester verwendet, das in Japan produziert wird. Es ist wetterbeständig und mechanisch stabil, wenn zum Beispiel mal ein Ast hängen bleibt. „Es ist doppelt so stabil wie eine Stahlspeiche. Ich habe noch keine Garnspeiche kaputtgekriegt“, sagt Ingo Berbig. Im Keller seiner Manufaktur in der alten Strumpffabrik S.A. Löffler in Einsiedel stehen selbst entwickelte Prüfmaschinen, die die Speichen unter Extrembedingungen auf Herz und Nieren testen.

Am Ende bleibt also nur noch die Frage: Wie funktioniert die Anbindung an Nabe und Felge? Eine hochbelastbare und längentreue Verbindung zwischen Seil und Metall auf so engem Bauraum gab es bislang nicht. Ingo Berbig hat dafür eine spezielle Verbindungstechnik entwickelt. Ihm ist mit der Garnspeiche somit eine Transformation gelungen: eine absolut neue Anbindung eines textilen Geflechts an ein Metallgewinde.

Unter dem Namen Pi Rope, das für die Kreiszahl Pi und das englische Wort „rope“ für Seil steht, stellen Berbig und sein Team, das mittlerweile aus elf Mitarbeitern besteht, ihre Textilspeichen her und bauen sie in das Rad ein. Das Produkt hat sich der Chemnitzer patentieren lassen. In Europa sind Berbig und seine Mitarbeiter der einzige Hersteller textiler Speichen, nur in den USA gibt es noch jemanden, der dieselbe Idee hatte. Und auch, wenn mittlerweile zwischen 40 und 60 Laufradsätze pro Monat die Manufaktur in Einsiedel verlassen, will Ingo Berbig immer nach dem Grundsatz „Klasse statt Masse“ arbeiten. „Es geht darum, das Fahrrad zu erleben“, sagt der 45-Jährige.