Wirtschaft, Lebensart & Kultur für Netzwerker
Wirtschaft

Verquer im Suezkanal

Wenn Lieferketten gestört sind

„Ever Given“ ist ein Symbol. Das Containerschiff „Ever Given“ war es, das am 23. März 2021 bei starkem Wind aus der Fahrrinne des Suezkanal geriet, sich stark verdrehte, an einer Uferböschung auf Grund lief und so den Kanal, wichtige Verbindung und Engstelle der Schiffsverbindungen zwischen Asien und Europa, für sechs Tage blockierte. Hunderte Schiffe stauten sich in beide Fahrtrichtungen. Die „Ever Given“ wurde zum Symbol für die Anfälligkeit globaler Lieferketten. Ein bisschen ungerecht ist das: Denn in den vergangenen Jahren störte gleich eine Reihe von Ereignissen die Logistik von A nach D über B oder C: Die Corona-Pandemie schränkte lokal Verkehre ein, sorgte für Krankheitsausfälle mal hier, mal dort, ließ chinesische Häfen wochenlang den Betrieb einstellen. Der Ukraine-Krieg Russlands beeinträchtigt die Lieferfähigkeit ukrainischer Unternehmen, verhindert den Abtransport von Lebensmitteln wie Getreide oder auch Sonnenblumenöl aus der Ukraine, vermindert die Einfuhr von russischem Öl, Gas oder Kohle nach Westeuropa und den Export deutscher Maschinen ins boykottierte Russland. Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan senkte die dortigen Abbauaktivitäten seltener Erden, der China-Taiwan-Konflikt lässt um einen Hauptstandort der weltweiten Chipproduktion fürchten. Der Putsch in Niger vermehrt die Unruhen auf dem afrikanischen Kontinent. Er beschleunigt den Abnabelungsprozess von der früheren Kolonialmacht Frankreich – die hier bisher allerdings 40 Prozent des Uranbedarfs für ihre Atomkraftwerke deckte. Und so weiter und so fort. Was ist da schon eine „Ever Given“? Und überhaupt warten im Bereich der Lieferketten noch ganz andere Herausforderungen.

Liefertermin: In 50 Wochen

In Zeiten wie diesen eine neue Produktionslinie aufzubauen, dazu gehört schon ein wenig unternehmerischer Mut. Dr. Jens Trepte brachte diesen Mut auf. Seit 20 Jahren ist er mit den Unternehmen seiner IMK-Gruppe erfolgreich. Ein Team aus Planungsingenieuren entwickelte Karosseriebau- und Fertigungskonzepte und gestaltete ganzheitliche Produktionsprozesse bis hin zur komplexen und digitalen Fabrik mit. Die Softwarelösung „Editor menschliche Arbeit“ wurde zum Erfolgsprodukt, das nicht nur bei OEMs, sondern auch bei Zulieferern eingesetzt wird. IMK Automotive, wie das wichtigste Unternehmen über Jahre heißt, ist klassischer Dienstleister. Man benötigt Büromaterial und IT-Ausstattung, gelegentlich auch Material für Funktionsmuster, ansonsten ist man von Zulieferern unabhängig.

Doch dann kommt eine Anfrage zur Entwicklung und anschließenden Produktion eines medizinischen Gerätes. Trepte beschließt nach Rücksprache mit seinem Team, die Herausforderung anzunehmen. Aus der IMK-Gruppe wird 2022 das imk Intelligence Consortium, aus IMK Automotive wird imk Industrial Intelligence, ein Schwesterunternehmen imk Health Intelligence entsteht. Letztere wird zum Medizintechnikentwickler, der Geräte für die In-vitro-Diagnostik sowie medizinische Robotik- und Assistenzsysteme entwickelt und produziert.

2 inside

„Viele Zulieferer scheuen sich momentan, feste Lieferzeiten zu benennen.“

Dr. Jens Trepte,

Geschäftsführer der imk Health Intelligence GmbH

1 inside

Der altehrwürdige Firmenstandort, ein 1820 errichteter, von imk zur Denkfabrik umgerüsteter Fabrikbau am Stadtrand von Chemnitz, war für moderne Produktion ungeeignet – also musste eine Produktionsstätte ergänzt werden. Das Technikum, das entstand, wurde Mitte September eingeweiht – aufgrund von Liefer- und Personalengpässen in der Bauindustrie mit etwa einem Jahr Verzögerung. Auch die Ingenieur*innen bei imk mussten umdenken – vom Dienstleistungsunternehmen zum Produzenten von Serienprodukten. Und imk Health Intelligence brauchte einen eigenen Einkauf. „Wir haben jetzt ein Netz aus über 200 Lieferanten“, berichtet Trepte. Übermäßig belastbar sind die Lieferketten noch nicht: „Viele Zulieferer scheuen sich momentan, feste Lieferzeiten zu benennen – oder der Liefertermin liegt gleich mal bei 50 Wochen“, so Trepte. Das verteure den Einkauf, aber: „Wir haben trotzdem Lieferausfälle. Manche Teile lassen sich einfach nicht ersetzen.“ Das treffe regional verwurzelte Mittelständler wie imk besonders und mache den Neustart in der Medizintechnikbranche extrem schwierig, sagt Trepte: „Aber ich hoffe, das sich das auf Dauer wieder bessert.“

In der Sandwich-Position

Auch René In der Stroth kann ein Lied von solchen Problemen singen. Er ist Mitglied der Geschäftsführung der IMM electronics GmbH in Mittweida. Das Unternehmen fertigt Elektronik-Baugruppen und elektronische Geräte in kleineren oder größeren Serien, mal für kleinere Kunden, mal für Konzerne. 25.000 verschiedene Teile werden dabei verbaut, sagt In der Stroth. „80 Prozent kommen aus dem asiatischen Raum, aus Taiwan, China oder Indonesien.“ Neben der Problematik anfälliger Lieferketten steht IMM noch vor einem ganz anderen Problem – dem Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz.Das Gesetz mit dem Endlos-Namen ist zum 1. Januar 2023 in Kraft getreten und soll dafür sorgen, dass in Deutschland verkaufte Produkte in all ihren Teilen unter Einhaltung der Menschenrechte produziert wurden. Die Bundesregierung (und im Prinzip auch die EU) will, dass europäische Unternehmen globale Verantwortung übernehmen und nicht an Kinderarbeit, Ausbeutung, Diskriminierung und fehlenden Arbeitsrechten verdienen.

Das mag sinnvoll sein, wenn man bedenkt, unter welch unwürdigen Verhältnissen für Mensch und Umwelt Kleidung oder Fußbälle in Asien produziert, Kakao oder Obst in Afrika, Kaffee in Südamerika angebaut werden. Für IMM jedoch wird es zum Problem. „Zwar gilt das Gesetz aktuell nur für Unternehmen mit mehr als 3.000 Mitarbeitenden, ab 2024 für Unternehmen mit mehr als 1.000 Mitarbeitenden – doch die Konzerne, denen wir zuliefern, geben ihre Compliance-Verpflichtungen an uns weiter“, erläutert In der Stroth. IMM sei in einer Sandwich-Position, dem die Nachweis-Pflichten auferlegt werden: „Wir müssen Dinge bestätigen, die durch 40 Vorprozesse gegangen sind.“ Obwohl IMM vom Gesetz formal nicht betroffen ist, trägt es trotzdem Konsequenzen. Inzwischen hat das Unternehmen eine eigene Vollzeitstelle geschaffen, die sich ausschließlich mit Fragen des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes beschäftigt: „Aber bei 25.000 verbauten Teilen stoßen wir auch an Grenzen – vor allem, wenn Zulieferer einfach nicht antworten.“ Das könne auch Wachstum bremsen: „In manchen Fällen stellt sich die Frage, ob der Kunde das Haftungsrisiko übernimmt, ob wir es selbst tragen wollen oder ob wir einen Kunden deshalb ablehnen müssen“, so In der Stroth.

AdobeStock_55274842

Ein Gesetz als Damoklesschwert

Bei der Industrie- und Handeslkammer Chemnitz kennt man das Problem – und weiß um ein zusätzliches: Europäische und deutsche Gesetzgebung sind momentan noch nicht harmonisiert. Die Brüsseler Regelung, so erwartete es IHK-Hauptgeschäftsführer Christoph Neuberg bei einem Pressegespräch im Sommer, werde wohl noch strenger als die aktuelle deutsche. Momentan ist das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, kurz BAFA, mit der Überwachung des Gesetzes beauftragt: "Es ist aber wie beo der Datenschutzgrundverordnung - die ist da, Fehlverhalten wird aber kaum sanktioniert." So schwebe das Lieferkettengesetz "als Damoklesschwert über den regionalen Unternehmen."

„Grundsätzlich wäre es sinnvoll, wenn Sorgfaltspflichten und Menschenrechtsvereinbarungen Teil von Freihandelsabkommen würden.“

Christoph Neuberg,

Hauptgeschäftsführer der IHK Chemnitz

Christoph Neuberg (2)

Einen Vorteil kann er im Gesetz erkennen – Produktionskosten könnten weltweit transparenter und damit vergleichbarer werden. Doch eigentlich würde ihm eine andere Lösung vorschweben: "Grundsätzlich ware es sinnvoll, wenn Sorgfaltspflichten und Menschenrechtsvereinbarungen Teil von Freihandelsabkommen würden – aber je mehr man in solche Verträge reinpackt, desto unwahrscheinlicher werden sie zustande kommen." Der Wunsch der Europäer nach umweltverträglicher und menschenwürdiger Produktion, das darf man heraushören, wird nicht überall geteilt. Im Zweifel würden die Rohstoffgewinnung und die Produktion von Vorprodukten nach Asien abwandern, weil man dort keine NAchweise erbringen muss. "Es braucht eine internationale Harmonisierung", sagt IMM-Geschäftsführer In der Stroth: "Sonst ist das Gesetz ein extremes Risiko für den Standort Deutschland."

Der beschwerliche Weg ist, sich von globalen Lieferanten und Logistikketten unabhängiger zu machen. Wie teuer Unabhängigkeit ist, ist bis heute an den Energiepreisen ablesbar. Die Politik geht diesen Weg trotzdem. Im Beispiel der Chip-Industrie nimmt sie dafür einige Kosten – sprich: Subventionen in Milliardenhöhe – in Kauf. Dass vielleicht der politische Wille zu heimischen Produkten, nicht immer aber auch das nötige Kleingeld vorhanden ist, durfte leidvoll erfahren, wer in der Corona-Pandemie eine Ad-hoc-Produktion medizinischer Schutzmasken aufgebaut hatte, aber nicht über politische Kontakte verfügte – nicht jeder deutsche Spontanproduzent konnte seine Ware unterbringen. Und dennoch wird mittelfristig so mancher Produktionsschritt vielleicht nach Deutschland und Europa zurückkehren. "Schnell geht das aber nicht“, weiß Christoph Neuberg.

Regionale Kooperationen

Ein Schritt zur Deglobalisierung von Geschäften sind lokale Kooperationen. Häufig sitzt ein potenzieller Zulieferer im Nachbarort – man kenne ihn aber einfach nicht, ist man bei der Wirtschaftsförderung Erzgebirge (WFE) überzeugt. Unter dem Motto „informieren | kontaktieren | kooperieren“ veranstaltet sie deshalb in diesem Jahr zum 17. Mal die „Kooperationsbörse Zulieferindustrie“. Inzwischen deckt man ein breites Leistungsangebot von Metallverarbeitung und Maschinenbau, Elektrotechnik und Elektronik, Kunststoffverarbeitung, Holzbearbeitung bis hin zur Kartonagenfertigung sowie produktionsnahe Dienstleister und Forschungs- und Entwicklungspartner der Industrie ab, Teilnehmende kämen inzwischen nicht mehr nur aus dem Erzgebirge, sondern auch aus ganz Sachsen, dem benachbarten Thüringen und aus Tschechien – „nahezu alle Bereiche der Fertigungskette im Zulieferbereich“, heißt es bei der WFE: „Alle teilnehmenden Unternehmen und Institutionen eint dabei das Ziel, einfach in lockerer Atmosphäre ins Gespräch zu kommen und Potenziale für Synergien auszuloten.“

Am 18. Oktober 2023 kann man in der Silberlandhalle in Annaberg-Buchholz nach kürzeren Lieferketten fahnden. Nachahmung hat die Idee inzwischen auch in Mittelsachsen gefunden – mit der Kooperationsbörse Ressourcentechnologie RESTEC. Hier setzt man derzeit aber noch auf einen zweijährigen Turnus – die nächste Ausgabe ist im Frühjahr 2025 geplant. Bis dahin fließt noch viel Wasser durch den Suezkanal.