Offene Grenzen, offene Wirtschaft. Kaum ein Land profitiert vom Schengen-Raum so sehr wie Deutschland, der Exportweltmeister. Das gilt – nach einem Einbruch in den 1990er Jahren durch den Wegfall der Märkte im Ostblock – längst auch wieder für die regionalen Unternehmen. China war 2019 für die sächsischen Unternehmen der größte Handelspartner. Lieferungen im Wert von 7.2 Milliarden Euro gingen in das asiatische Land. Sachsens zweitwichtigstes Exportland war die USA, dann folgten Großbritannien und auch die nächsten sieben Plätze wurden von Ländern in der EU belegt.
Damit war Europa der wichtigste Kontinent mit einem Anteil von 57,7 Prozent an allen Exporten. Ausgeführt werden unter anderem Maschinen und Anlagen, Autos, Metallerzeugnisse – und Rasierpinsel.
Bis fast an die tschechische Grenze muss fahren, wer die Geschichte der Marke MÜHLE aus erster Hand erfahren will. MÜHLE, das steht für hochwertige Produkte im Bereich des Rasierens. Handgefertigte Rasierpinsel mit Dachshaar, Rasierhobel-Editionen mit Griffen aus Meißner Porzellan, duftende Seifen und Cremes, Schalen, Spiegel oder Messer. „Rasurkultur“ lautete der Untertitel zu MÜHLE. Von Stützengrün aus werden die Erzeugnisse in die Welt gesandt.
Handwerk aus Tradition
Westerzgebirge und Ostvogtland haben eine lange Tradition, was die Herstellung von Bürsten und Pinseln betrifft. Nach dem Ende des Bergbaus suchten die Menschen nach neuer Beschäftigung. Textilherstellung oder Holzverarbeitung boten Chancen und eben auch die Herstellung von Bürsten oder Pinseln.
Bürstenmänner produzierten in Heimarbeit ihre Produkte, kauften ein paar andere hinzu und vertrieben sie dann auf festen Routen, wandernd vorbei an Geschäften, Gasthöfen und großen Bauernhöfen, die die Waren abnahmen. „Einer meiner Ururgroßväter und einer meiner Urgroßväter waren Bürstenmänner“, berichtet Andreas Müller. Der 44-Jährige ist einer von zwei Geschäftsführern der Hans-Jürgen Müller GmbH & Co. KG, die hinter MÜHLE steht – der andere ist sein Bruder Christian. Bis in die Lausitz reichten die Vertriebsrouten der Müllerschen Vorfahren. Irgendwann wurde die Handarbeit von der Industrie überholt, bei Familie Müller ging es weiter.
Ein Großvater – Otto Johannes Müller – gründete nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Pinselmacherei. In einer Waschküche wurden die Bürsten gekocht und aufbereitet, schnell Handelsbeziehungen in alle Welt geknüpft: „Ein pensionierter Lehrer mit Fremdsprachenkenntnissen half meinem Großvater damals bei der Auslandskorrespondenz“, weiß Andreas Müller. Bis in den Vorderen Orient, nach Griechenland oder die USA wurden die erzgebirgischen Pinsel verkauft und später auch in den Ostblock.
Als der Großvater bereits 53-jährig verstirbt, muss der Sohn Hans-Jürgen mit ran – frisch vom Maschinenbau-Studium aus Karl-Marx-Stadt in die Heimat zurückgekehrt. „Er hat den heutigen Produktionsstandort gekauft.“ Doch nicht lang darf Hans-Jürgen selbstständig seinen Betrieb führen – in der zweiten Verstaatlichungswelle Anfang der 1970er Jahre wird er in ein Kombinat übernommen. „VEB – das stand für uns für ‚Vaters ehemaliger Betrieb‘“, so Andreas Müller.
1986 macht sich sein Vater noch einmal neu selbstständig, wenig später dann die Wende: „Für die meisten Aufträge aus dem Ostblock kam da der Stopp. Die Idee, Rasierpinsel zu produzieren, war eigentlich eine Notgeburt.“ Andreas erinnert sich, wie er im frischen Nachwende-Unternehmen als Jugendlicher in den Ferien oder in der Freizeit mit anpacken musste: „Dabei hat man in der Schule nicht mit großem Stolz erzählt, dass der Vater Pinselmacher ist. Aber es war uns ganz klar, dass es hier um die Wurst geht für die Familie. So ist eine hohe Verbundenheit mit dem Unternehmen entstanden.“ Erst Mitte der 1990er Jahre habe das Unternehmen sicheren Boden unter den Füßen gehabt. Christian erlernt da das Handwerk des Pinsel- und Bürstenmachers, Andreas verabschiedet sich zu einem Theologiestudium.
Investition in die Markenentwicklung
Andreas Müller kehrt zurück. „Bis in die 1990er Jahre galt die Nassrasur als etwas angestaubt. Etwas für Herren, die zu altmodisch waren für elektrische Rasierer“, erinnert er sich. Bis in die 1960er Jahre seien 90 Prozent aller Friseurläden in Deutschland Herrenfriseure gewesen, Lehrlinge hätten zunächst mal nur rasiert. Die Dauerwelle lockte immer mehr Frauen zu den Friseuren, Systemrasierer machten den Barbierbetrieb unrentabel. Dass Mann sich rasieren ließ, das passierte höchstens Mal im Urlaub in Südosteuropa. Ein Sehnsuchtserlebnis mit nostalgischem Charme. „Wir haben uns seit Anfang der 2000er Jahre überlegt, wofür unsere Marke stehen soll: für exzellentes Handwerk Made in Germany, für edles Design und Exklusivität. Diesen Weg verfolgen wir seitdem konsequent.“
„Der Kunde verzeiht uns schlechte Fotos nicht, nur weil wir aus dem Erzgebirge kommen.“
Andreas Müller, Geschäftsführer
Im Laufe der Jahre wurden die Produkte verfeinert: Mehr Regionalität, mehr Nachhaltigkeit wie beispielsweise die Produktion mit Ökostrom oder der Einsatz von Karrtonverpackungen. Und neue Produkte entstanden, die das Markenerlebnis vervollständigen sollten: Kosmetiklinien beispielsweise. „Für uns war wichtig, immer wieder in die Welt zu senden: Rasieren ist keine lästige Pflicht, es ist ein schönes Alltagsritual – erst recht, wenn man eine tolle Ausstattung hat.“ Dass ein exakt frisierter Kopf oder ein geformter Bart inzwischen wieder hip sind unter Männern und Barbershops allüberall aus dem Boden schießen – vielleicht hat das Stützengrüner Unternehmen daran mitgewirkt. In jedem Fall entstand ein weltweiter Trend, von dem man heute auch profitiert: „Aber nur, wenn der Auftritt stimmt: Der Kunde verzeiht uns schlechte Fotos nicht, nur weil wir aus dem Erzgebirge kommen.“
International ja, aber nicht als Einbahnstraße
„Als ich 2006 ins Unternehmen eingestiegen bin, haben wir konsequent begonnen, internationale Märkte anzugehen“, sagt Andreas Müller. Früher habe man hauptsächlich mit Großhändlern zusammengearbeitet, aber: „In manchen Ländern haben wir damit einfach keinen Zugriff auf die Märkte bekommen.“ Deshalb sei das Auslandsgeschäft zunehmend in die Hände von exklusiven Vertriebspartnern übergegangen: „Ja, man schenkt dadurch ein bisschen Marge her – aber bei uns hat sich das in allen Fällen als positiv erwiesen.“
So werden MÜHLE-Produkte heute in Frankreich von der Firma Beligné et Fils vertrieben, einem Familienunternehmen, das seit 400 Jahren im Schneidwarenvertrieb unterwegs ist. In Russland habe man eine frühere Angestellte eines Großhändlers ermutigt und unterstützt, selbstständige MÜHLE-Vertriebspartnerin zu werden – sie beschäftigt heute zehn eigene Angestellte: „Es ist toll, was da entstanden ist“, findet Müller. In England betreibt das Vertriebsteam eigene Marketingkanäle, kann dabei auf hochwertigen Content aus Deutschland zurückgreifen und zugleich eigene Akzente setzen.
70 Prozent beträgt der Exportanteil von MÜHLE heute. „Unsere Hauptmärkte sind Frankreich, China, England, Russland, Skandinavien, die Benelux-Staaten und die USA.“ Doch Internationalität ist für Müller keine Einbahnstraße: „Wir gehen auch strategische Partnerschaften ein.“ So vertreibt MÜHLE trotz eigener Kosmetik- und Pflegelinie auch Produkte anderer Hersteller: Die italienische Traditionsmarke Proraso ist dabei oder die kalifornische Marke Baxter, die sich selbst als Pionier der Männerpflege betrachtet. So exklusiv muss es schon sein: „Wir vertreiben Produkte, die es nicht an jeder Ecke gibt.“
Ein Shop in Soho
Die gibt es auch in zwei eigenen Shops zu erwerben, die MÜHLE inzwischen betreibt, seit über fünf Jahren in Berlin, seit 2018 auch im schicken Londoner Stadtteil Soho. „Die Idee hinter den Geschäften war nicht, damit das große Geld zu verdienen“, bekennt Müller: „Die Idee war, das Prinzip Einzelhandel besser zu verstehen.“ Man könne Erfahrungen rund um das Thema Produktpräsentation sammeln, zugleich erhöhe ein Flagship-Store aber natürlich die ganzjährige Wahrnehmung: „Als wir nach London gegangen sind, in die Welthauptstadt der Männerpflege, wussten wir: Das wird internationale Beachtung finden. Und das ist auch eingetreten.“
Zwei Ebenen habe der Shop in Soho, im Erdgeschoss kann man die MÜHLE-Produkte kaufen, im Tiefparterre ist ein Friseursalon in klassischem Stil entstanden, um Rasurkultur hautnah erleben zu können. Einheimisches Personal betreibe den Laden, der auch den Stützengrünern ans Herz gewachsen ist. Doch bleibt das jetzt auch so? „Der Brexit macht mir keine großen Sorgen“, sagt Müller: „Wir werden ein bisschen mehr bürokratischen Aufwand haben und womöglich Zölle zahlen, doch das ist zu verkraften.“
Eher macht er sich Sorgen um den Stationären Einzelhandel als Ganzes. Corona wirke auf die ohnehin unter Druck stehende Branche wie ein Turboboost für den Abschwung. Deshalb sei fraglich, ob man weitere Shops eröffne, auch wenn es den Traum eigener Geschäfte in Shanghai oder Hongkong, in Tokio, Paris oder Moskau gebe: „Am Ende wird es eine Mischung aus Gelegenheit und Machbarkeit sein, die das entscheidet“, so Müller: „Vielleicht werden wir ja Pop-up-Stores haben.“ Gerade die für London gefundene Mixtur aus Handel und Dienstleistung als komplettes Markenerlebnis könnte dabei ein Weg sein: Immerhin kann Amazon – zumindest im Moment – noch keine Bärte trimmen.
Die richtige Strategie im Netz
Doch nicht nur die Shops, auch die eigenen Web-Angebote sind ein Vertriebskanal. „Wir sind sehr früh auch auf einen eigenen Internet-Shop gegangen.“ Dabei sei eine Reihe von Fragen langfristig zu klären. Wie beispielsweise geht man mit Amazon oder Ebay um? Setzt man auf einen großen internationalen Webshop oder auf viele länderspezifische Lösungen? „Das sind große Aufgaben, damit man hier in gute Bahnen kommt“, findet Müller: „Schließlich wollen wir unsere Produkte nicht verramschen.“
Doch vor allem bei Nischenprodukten, wie es die Rasierutensilien doch sind, seien Männer web-affin – man kann hier auf Online-Shops nicht verzichten. Dabei sei die beste Customer-Experience sicherzustellen, das perfekte Einkaufserlebnis. Hochwertiger Content ist dabei wichtig, doch genauso auch die Verfügbarkeit der Produkte: „Weil wir hier mit unseren regionalen Partnern wegen der Unterschiedlichkeit der Märkte auch unterschiedlich gut aufgestellt sind, haben wir uns für regionale Lösungen entschieden.“
Denn das sei unter allen Herausforderungen die größte: Nicht nur gute Produkte herzustellen, sondern zufriedene Handelspartner und glückliche Kunden zu haben. Dann klappt’s auch international. vtz
ZUM UNTERNEHMEN
MÜHLE Rasurkultur ist eine Marke der Hans-Jürgen Müller GmbH & Co. KG. Das Unternehmen aus Stützengrün beschäftigt heute etwa 80 Mitarbeiter, den Löwenanteil in Produktion und Logistik. Zwischen 80.000 und 100.000 handgearbeitete Rasierpinsel stellt das Unternehmen jährlich her, darüber hinaus gibt es in Stützengrün auch Metall- und Holzbearbeitende Abteilungen, zum Beispiel für die Produktion der Griffe. Neben den handgefertigten Produkten steuert die maschinelle Produktion für andere Marken etwa 25 Prozent des Umsatzes bei.