Inmitten der Corona-Pandemie kursierten verschiedene Zahlen. Einerseits: Länder, in denen Frauen an der Regierungsspitze stehen, würden die Krise besser meistern. Andererseits: Die Krise führe dazu, dass Frauen durch den Lockdown aufs ursprüngliche Rollen-Klischee von Hausfrau und Mutter zurückgeworfen würden, all die emanzipatorischen Erfolge der vergangenen Jahre nichtig seien.
CHEMNITZ INSIDE sprach mit der Dresdener Psychologin Dr. Ilona Bürgel über Krisenbewältigungsstrategien nicht nur von Frauen und die Frage, was wir alle aus Corona lernen können.
Frau Dr. Bürgel, was macht die Corona-Krise mit den Frauen?
Grundsätzlich kann man wohl sagen, dass Frauen einen anderen Umgang mit der Krise pflegen. Allgemein nehmen Frauen Informationen auf der zwischenmenschlichen Ebene auf, während Männer mehr auf der Sach- und Leistungsebene sind. Das ist keine Bewertung, das eine ist nicht besser als das andere, es entspricht eher dem Ideal der Ergänzung zwischen den Geschlechtern. Aber konkret für die Jetzt-Zeit heißt es: In Krisenzeiten sind Menschen zunächst einmal betroffen, sie haben Sorgen, sind traurig. Das nehmen Frauen wahr und vor allem: Sie beziehen es eher auf sich, das heißt, sie versuchen sich zu engagieren, versuchen zu helfen. Das geht dann stark auf die eigenen Kosten. Man hat ja in der Regel ohnehin mit sich zu tun, mit seinem Job – und kommt dann noch zusätzlich in diese Unterstützungsrolle hinein. Dadurch intensiviert sich, was ohnehin unser Leben prägt: dass wir uns zu wenig um uns selbst kümmern.
„Wir“ als Frauen oder geschlechterübergreifend?
Wir alle. Und wir als Frauen noch mehr, weil wir Frauen sagen: Erst alles andere. Dann gibt es keine Zeit mehr, dann schlafen wir abends vor dem Fernseher ein, ohne uns um uns gekümmert zu haben. Das ist etwas, was wir alle lernen dürfen: Dass wir nur aus gefüllten Tanks Leistung bringen können. Es ist eben eine Illusion, dass man dauerhaft für andere da sein kann, wenn man selbst nicht gut drauf ist.
Ist also das Ziel, sich stärker zurückzunehmen?
Nein, auf keinen Fall. Das Ziel ist es, sich selbst mehr in den Vordergrund zu stellen. Es geht um Selbstfürsorge, Selbstaufmerksamkeit. Weil wir häufig so lange mit unseren normalen Gewohnheiten weitermachen, bis wir krank sind. Erst dann merken wir, dass wir überlastet sind. Gerade Leute, die ihre Arbeit sehr gern machen, merken gar nicht, dass sie verbrennen, dass sie nicht richtig auftanken. Man kann einfach mal durchrechnen, wie viel Zeit man fürs eigene Wohl aufwendet am Tag. Und da reden wir noch gar nicht von Qualität, sondern von reiner Zeitinvestition. Die viel gepriesene Balance zwischen Geben und Auftanken ist ein Zukunftsthema, weil wir sonst nicht das leisten können, was wir wollen und sollen.
Und wie kommt man dahin? Man kann ja nicht einfach sagen: Ich arbeite eine Stunde weniger oder ich schlafe eine Stunde weniger…
Ich denke, der erste Schritt ist, dieses Bewusstsein zu entwickeln, wie wichtig man selbst ist, wie wichtig unsere eigenen Potenziale sind. Wir gehen immer davon aus, dass unser Körper, unser Geist selbstverständlich immer auf höchstem Niveau funktionieren. Aber das gibt es nicht. Dass wir immer mehr aus uns herauspressen, dass wir in derselben Zeit immer mehr leisten wollen, das kann nicht aufgehen. In der Natur gibt es Plateaus, da gibt es auch einmal Rücklaufphasen und vor allem gibt es das Prinzip des Ausgleichs aus Aktivität und Passivität, Geschwindigkeit und Pause. Aber dafür müssen wir zuerst unseren Blick schärfen, dass auch wir so funktionieren und dass das kein Defizit ist. Dass es nicht schlecht ist, wenn wir müde sind, sondern ein wichtiges Signal. Wir wissen alle, dass wir etwas für unsere Gesundheit tun müssen. Und ich finde, das ist der positive Aspekt an der Corona-Krise: Wir erwarten, dass wir nichts investieren und die Gesundheit ist trotzdem da. Und jetzt sagen wir: Huch, wieso funktioniert mein Immunsystem nicht?
Zur Person: Ilona Bürgel studierte Psychologie an der Universität Leipzig und promovierte zum „Autobiographischen Gedächtnis“. Es folgten zahlreiche Zusatzausbildungen. Seit 1997 arbeitet Ilona Bürgel als Referentin im deutschsprachigen und europäischen Raum für öffentliche Institutionen und private Unternehmen. Ilona Bürgel arbeitete 15 Jahre in der freien Wirtschaft als eine der ersten Frauen in Führungsposition im Anwaltsbereich. Sie schloss ein zweites Studium als Rechtsfachwirt sowie Managementausbildungen in New York und Exeter, UK, ab. Seit 2005 führt sie erfolgreich ihr eigenes Unternehmen in Dresden, wofür sie 2011 für den victress award und 2013 für den Querdenkeraward nominiert wurde.
Seit 2001 publiziert Ilona Bürgel regelmäßig Bücher und Hörbücher. Ihr aktueller Titel „Wohlbefinden, Glück und Lebensfreude in der digitalen Welt“ erschien im November 2018. Regelmäßig ist Ilona Bürgel Beraterin für den Rundfunk und in Printmedien, darunter mit eigenen Kolumnen in Focus-online, Wirtschaftswoche-online und in der Sächsischen Zeitung.
Was wäre der zweite Schritt?
Ganz konkret zu schauen: was passt für mich. Der eine geht Tennisspielen, der andere wird Trampolin springen, der dritte macht etwas mit Tieren und der nächste autogenes Training. Wichtig ist, dass wir in Körper und Geist investieren und in die Haltung zum Leben, in die Lebensfreude, in das „Ich möchte glücklich sein“. Da können wir uns durchaus auch etwas von anderen Kulturen abschauen, von der südlichen Lebensart, das Leben zu lieben, das Essen zu lieben.
Wie könnten konkrete Ideen aussehen?
Wichtig ist, konkrete Dinge als neue Gewohnheiten, als Rituale zu etablieren. Ganz einfach wäre es zum Beispiel sich zu überlegen: Wie starte ich meinen Tag. Denn so wie der Morgen ist, so wird der ganze Tag. Also sollte man sich fragen: Was tut mir gut? Schöne Musik im Bus oder im Auto hören. Morgens einfach mal sinnlos Zeit verbummeln. Wenn man sich morgens schon sagt: Ich bin dafür zuständig, wie es mir heute geht, dann zieht man einen ganz anderen roten Faden durch den Tag als wenn man getrieben durch den Tag geht. Deswegen gehört für mich dazu, nie früh als erstes die Technik anzumachen. In dem Augenblick, wo die E-Mails aufgemacht werden, bin ich fremdbestimmt. Da kann man einfach sagen: Vor zehn bin ich per E-Mail nicht erreichbar. Da geht die Welt nicht unter. Und solche Gewohnheiten müssen dann zum eigenen Lebensplan passen.
Und wenn mein Lebensplan sagt: Ich will powern, ich will Karriere machen?
Wenn Sie sich richtig erfolgreiche Leute anschauen, sind das immer welche, die meditieren, die sich Auszeiten nehmen, zwischendurch ihr Telefon ausschalten, die sich um ihre Persönlichkeitsentwicklung kümmern. Das sind niemals Menschen, die sich kaputtarbeiten. Das ist auch logisch: Je besser es mir geht, desto leichter kann ich gute Entscheidungen treffen, desto leichter kann ich Menschen führen.
Sie sprachen von Ritualen. Wie wichtig ist der Frauen- oder Männerabend, wo man sich bewusst aus der familiären Situation herauszieht?
Das sollte man unbedingt machen. Wir reden hier von sozialen Kontakten. Diese Mensch-zu-Mensch-Beziehungen, ein Umfeld, das uns trägt, sind das Wichtigste. Wir wissen aus der Forschung, dass Freundschaften ein Gesundheitsfaktor sind, dass Krankheiten schneller heilen, wenn man reale Freunde hat, die den Kamillentee ans Bett bringen und nicht nur ein Like schicken. Die Dänen gelten als glückliches Volk, weil sie mehrmals pro Woche ihre Freunde treffen. Das könnte ich von mir nicht sagen. Wir setzen die falschen Prioritäten. Wir kümmern uns um unsere Freunde genauso wie um uns, nämlich wenn wir Zeit haben. Also praktisch nie.
Gibt es ein Allheilmittel, das man allen Menschen empfehlen kann?
Ich arbeite gerade an einem neuen Slogan. Er heißt: „Ich gut. Alles gut.“ Genau das ist es: Wenn es mir gut geht, habe ich etwas zum Abgeben. Wie ich lebe, damit beeinflusse ich meine Familie, meine Freunde, meine Kollegen, meine Kunden. Wenn mir klar ist, wie wertvoll und wichtig ich bin, dann kann ich aus der Position heraus alles gut machen. Das heißt nicht: Egoismus. Sondern: Nur aus einer kraftvollen Quelle heraus kann ich auch gut für die anderen sein. Das ist ein Umdenken, das ich gern etablieren würde. Das bedeutet zugleich, dass man sein Glück etwas weniger von äußeren Faktoren abhängig macht: Wenn ich eine Konfektionsgröße kleiner habe, bin ich glücklich. Wenn ich das neue Auto kaufe. Wir haben in den vergangenen Monaten gemerkt, wie schwer wir die äußeren Faktoren beeinflussen können. Was wir beeinflussen können, ist, wie wir mit uns selbst umgehen.
Wie schafft man es, nicht in die Selbstoptimierungsfalle zu geraten, wenn man sagt: „Ich gut. Alles gut.“?
Indem man eben nicht anstrebt, dass man besser wird. Sondern, dass es einem gut geht. Man darf schon anstreben, seine Englisch-Kenntnisse zu verbessern. Aber wir brauchen auch Selbstakzeptanz und Selbst-Pflege. Das beginnt beim Essen und beim Trinken. Esse ich frisch oder esse ich aus der Tüte – das ist eine Frage, die hat mit Wertschätzung für mich selbst zu tun. Und wenn wir uns um sportlichen Ausgleich bemühen, sollten wir vielleicht eher Qi gong oder langsames Yoga betreiben als Spinning – wo uns jemand anschreit, um uns zur Höchstleistung zu treiben.
Wo stehen wir auf dem Weg, dorthin zu kommen?
Das ist individuell sehr verschieden. Was gerade passiert, ist ein Zeichen für uns, dass wir nicht richtig leben. Weil wir im Umgang mit uns, mit der Welt, mit der Natur falsche Entscheidungen treffen. Ich bin gespannt, wie sehr wir aufwachen. Da muss jeder einzelne ran, nicht so sehr „die anderen“. Wenn wir eine Geisteshaltung von Wohlwollen für uns selbst und für die anderen finden, wenn wir selbst freundlich sind, wird sich das übertragen, multiplizieren. Wir können nicht das große Ganze auf einmal ändern. Aber wir können selbst jeden Tag einen Schritt gehen.
War der Impuls durch Corona schon groß genug?
Ich glaube, es war ein großer Impuls, aber vielleicht wird er noch nicht in die Breite wirken. Ich höre von vielen Menschen, dass sie in einer Werterevision stecken: Brauchen wir wirklich drei Autos als Familie? Gebe ich etwas vom Gehalt ab, damit alle ihre Arbeitsplätze behalten? Da denken viele Menschen nach, und ich glaube, dass wir uns gegenseitig regelmäßig daran erinnern können. Deshalb sehe ich meine Aufgabe darin, Menschen immer wieder daran zu erinnern, was wir wirklich wollen, was uns glücklich macht.
Ist das nicht nur eine Elitendiskussion?
Ich erinnere gern daran, wie viele Menschen früher aus Asien oder Afrika zurückgekommen sind und gesagt haben: So viel Elend – und so viel Glück. Ich denke, es ist eine Frage der Geisteshaltung. Wir sind oft aufs Negative fokussiert und stecken uns dabei gegenseitig an. Da kehren wir zum Anfang zurück: Es gilt das Bewusstsein zu schärfen, wie ich denke, wie ich spreche, wie ich mich verhalte – und was ich damit bei mir und bei anderen auslöse.
Frau Dr. Bürgel, wir danken für das Gespräch. vtz
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