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Wohnen in der Welterbe-Idee: Die großen Chemnitzer Wohnungsgenossenschaften sind ein Erbe der DDR – mit ganz eigenen Herausforderungen

Um die 155.000 Wohnungen gibt es derzeit auf dem Chemnitzer Wohnungsmarkt. Jede fünfte davon findet sich im Eigentum einer Wohnungs(bau)genossenschaft. Diese Unternehmen haben eine Besonderheit: Sie arbeiten nicht nach dem Prinzip der Gewinnmaximierung, sondern verpflichten sich, ihren Mitgliedern kostengünstigen Wohnraum anzubieten.

Sechs große Wohnungsgenossenschaften mit insgesamt knapp 29.000 Wohnungen finden sich in Chemnitz. Mit 3.000 Wohnungen ist die Wohnungsbaugenossenschaft Chemnitz West (WCW) die kleinste unter den großen Genossenschaften, die WG „Einheit“ mit 6.200 die größte. Dass diese Großgenossenschaften sich alle in einem ähnlichen Größenbereich finden, hängt mit der Behandlung dieser Unternehmensform in der DDR zusammen.

Besser Gemeinsam

Die Genossenschaftsidee geht aufs 19. Jahrhundert zurück – in Deutschland sind vor allem die Namen Hermann Schulze-Delitzsch und Friedrich Wilhelm Raiffeisen damit verbunden. Raiffeisen wurde als Bürgermeister von Weyerbusch im Westerwald bekannt: Im Hungerwinter 1846/47 gründete er in der ihm anbefohlenen Stadt einen Hilfeverein, der Nahrungsmittel gegen Schuldscheine herausgab. 1848 stieg er auf zum Bürgermeister der größeren Gemeinde Flammersfeld. Um die Bauern vor Viehwucher zu bewahren, gründete sich auf sein Betreiben auch hier ein Verein: der „Flammersfelder Hilfsverein zur Unterstützung unbemittelter Landwirte“ – als gemeinsamer Kreditnehmer, der das Geld dann einzelnen Landwirten zu vernünftigen Zinssätzen zur Verfügung stellte. Ein Vorläufer der Banken also, die bis heute Raiffeisens Namen tragen.

Schulze-Delitzsch, der sich nach seiner Geburtsstadt in Sachsen-Anhalt benannt hat, war Mitglied der preußischen Nationalversammlung. Als er nach den 1848er Revolutionen nicht mehr politisch tätig sein durfte, gründete er 1849 in seiner Heimatstadt eine Schuhmachergenossenschaft. Die Idee: Handwerker sind stärker, wenn sie sich unternehmerisch gemeinschaftlich, nicht gegeneinander organisieren. In den Folgejahren verbreitet sich das Konzept. Schulze-Delitzsch darf ins Abgeordnetenhaus zurückkehren und gehört dort zu den Wegbereitern des Deutschen Genossenschaftsgesetzes. Heute gibt es Genossenschaften in über 100 Ländern, sie haben 800 Millionen Mitglieder. Seit 2016 genießt die Idee Welterbe-Status.

Neben den gewerblichen und finanziellen Genossenschaften setzen sich in Deutschland auch Wohnungs- und Wohnungsbaugenossenschaften durch. Die erste entstand 1862 in Hamburg auf der Elbinsel Steinwerder. In den Folgejahren sollten Genossenschaften insbesondere die Wohnsituation der Arbeiter verbessern. Auch hier die Idee: Gemeinsam erhält man leichter einen Kredit – denn alle stehen für jeden ein. Und man kann gemeinsam anpacken beim Bau.

Sozialpolitik heißt Wohnungsbau

Welches die erste Chemnitzer Baugenossenschaft war, darüber sind die Quellen uneindeutig. Die SWG, Gründungsjahr 1919, nimmt für sich in Anspruch, die älteste noch existierende zu sein. Auch die kleinere Wohnungsbaugenossenschaft „Pfarrhübel“ verweist aufs Gründungsjahr 1919. Die Chemnitzer Siedlungsgemeinschaft hat in genossenschaftsähnlich organisierten Bauvereinen Vorläuferorganisationen, die bis ins Jahr 1911 und 1912 zurückgehen.

In der NS-Zeit wurden die Genossenschaften gleichgeschaltet, ab 1945 gingen das ost- und das westdeutsche Genossenschaftswesen dann unterschiedliche Wege. Die Sowjetische Militäradministration erlaubte 1945 die Wiederrichtung von Raiffeisen- und Konsumgenossenschaften, 1946 durften Volksbanken ihre Geschäftstätigkeit wieder aufnehmen. In der Landwirtschaft wurde die Genossenschaft gar zur allesbeherrschenden Betriebsform – wenngleich ohne die demokratische Mitbestimmung, die Genossenschaften eigentlich eigen ist.

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Im Bereich des Wohnungswesens wurden nach dem Juni-Aufstand 1953 gezielt Arbeiterwohngenossenschaften (AWG) gegründet, um die Wohnungsnot nach dem Weltkrieg zu lindern – die Mitgliedschaft war im Regelfall an die Zugehörigkeit zu bestimmten Betrieben gekoppelt. Ältere Genossenschaften wurden ab 1957 revitalisiert als Gemeinnützige sozialistische Wohnungsbaugenossenschaften (GWG). Gemeinsam war beiden Formen, dass die Mitglieder für ihre Wohnungen selbst Hand anlegen – also Bauleistungen erbringen – mussten. So gründete sich 1954 auf dem Kaßberg beispielsweise die AWG „Solidarität“ mit 43 Mitgliedern, allesamt Mitarbeitende aus drei VEB.

Mit dem Machtübergang von Ulbricht auf Honecker übernahm der Wohnungsbau die überragende Rolle in der Sozialpolitik der DDR. Dafür wurde auch das Ziel ausgegeben, die Arbeit der Genossenschaften stärker zu zentralisieren. Kleinere Genossenschaften gingen in größeren auf, in Karl-Marx-Stadt wurden die Baugebiete unter sechs künftigen Großgenossenschaften aufgeteilt. Dies führte zu den ähnlichen Größen, die die großen Chemnitzer Genossenschaften noch heute haben. Die Zahl ihrer Wohnungen liegt damit deutlich über denen der meisten westdeutschen Wohnungsgenossenschaften. Und auch die Zahl der Mitglieder: Wer Hauptmieter*in einer Genossenschaftswohnung werden will, muss Genossenschaftsmitglied sein.

Neuer Anfang 1990

Mit der deutschen Vereinigung wurden die ostdeutschen Genossenschaften wieder dem Deutschen Genossenschaftsgesetz verpflichtet – mit demokratischer Selbstverwaltung und Mitgliederförderung. Die Chemnitzer Großgenossenschaften gründeten sich überwiegend neu – aus der AWG „Solidarität“ wurde beispielsweise die Chemnitzer Siedlungsgemeinschaft. „Neben den Wohnungen mussten wir auch die Altschulden übernehmen, die auf den Häusern lagen“, erklärt Ringo Lottig, der der CSg heute vorsteht. Der Bestand der Siedlungsgemeinschaft stammt überwiegend aus den 1960er Jahren und liegt mehrheitlich in Stadtteilen wie Kaßberg, Altendorf, Bernsdorf und dem Flemminggebiet.

So gehörten die Anfangsjahre nach 1990 der wirtschaftlichen Konsolidierung. „In geringem Maße hat die CSg Altschulden durch Verkauf oder Abriss abgebaut.“ Doch trotz massiven Rückbaus in der Stadt in den vergangenen 35 Jahren sagt Lottig: „Aus wirtschaftlicher Sicht hätten wir noch mehr Wohnfläche vom Markt nehmen müssen.“ Denn nach wie vor leiden Chemnitzer Vermieter und damit auch die Genossenschaften unter dem großen Angebot freier Wohnungen – man findet eine hohe Qualität zu einem für deutsche Großstädte einzigartig niedrigen Preis. „Was den Verbraucher freut, bedeutet für uns regelmäßig einen wirtschaftlichen Spagat bis zur Zerreißprobe“, so Lottig.

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Schließlich seien Genossenschaften nicht wie andere Akteure auf dem Wohnungsmarkt: „Für Privatpersonen ist die Immobilie vielleicht die Altersvorsorge, für Immobilienfonds ein Spekulationsobjekt, das man nach Belieben kauft oder verkauft. Aber wir sind Bestandshalter. Unser Geschäftszweck ist nicht, mit Immobilien möglichst viel Geld zu verdienen, sondern unsere Mitglieder mit Wohnraum zu versorgen.“ Oder wie es in der CSg-Satzung steht: „die Förderung der Mitglieder vorrangig durch eine gute, sichere und sozial verantwortbare Wohnungsversorgung.“

Die sechs großen Chemnitzer Wohnungsgesellschaften

Wohnungsgenossenschaft „Einheit“: 6.200 Wohnungen

CAWG – Chemnitzer Allgemeine Wohnungsbaugenossenschaft: 6.000 Wohnungen

CSg – Chemnitzer Siedlungsgemeinschaft: 5.000 Wohnungen

WCH – Wohnungsbaugenossenschaft Chemnitz-Helbersdorf eG: 4.400 Wohnungen

SWG – Sächsische Wohnungsgenossenschaft Chemnitz: 3.944 Wohnungen

WCW – Wohnungsbaugenossenschaft Chemnitz West: 3.058 Wohnungen

Als Großvermieter auch Stadtgestalter

Um die Genossenschaft konkurrenz- und damit zukunftsfähig zu halten, erforderte das beim vorhandenen Bestand eine erste große Sanierungswelle in den 1990ern. In der zweiten sei man gerade mittendrin: „Dabei nehmen wir auch immer wieder Wohnungen vom Markt, indem wir zum Beispiel kleinere zu größeren Wohnungen zusammenlegen.“ Damit sei es auch gelungen, nicht nur Altmieter – häufig noch die, die in den 1960ern die Wohnungen erstbezogen haben – zu halten, sondern neue, jüngere Mieterschichten zu gewinnen.

„Als Großvermieter nehmen wir mit unseren Entscheidungen zu Sanierungen auch Einfluss auf die Stadtgestaltung. Dieser Verantwortung sind wir uns bewusst.“ So sei es beispielsweise gelungen, die Grundschule im Flemminggebiet zu erhalten: „Als ich 2012 als Vorstand anfing, stand die vor dem Aus, weil kaum noch Kinder in der Umgebung lebten.“ Durch massive Investitionen und die Schaffung von familiengerechtem Wohnraum konnte man die Entwicklung abwenden: „Die Bewohnerstruktur im Flemminggebiet hat sich verändert. Inzwischen gibt es pro Schuljahr wieder 60 bis 80 Grundschulkinder, die Schule ist vierzügig ausgebaut und im Viertel haben wir plötzlich Parkplatznöte“, klingt der CSg-Vorstand stolz.

Die tanzende Siedlung

Auch Neubauten gehören zu den Zukunftsstrategien – bei der CSg etwa durch den Bau der „Tanzenden Siedlung“ an der Kaßbergauffahrt. „Das sind dann höherwertige Objekte mit individuellen Grundrissen.“ Bei 6 Euro Kaltmiete liegen die Durchschnittsmieten bei der CSg derzeit, in Neubauten gibt es deutliche Ausreißer nach oben. Wie vertragen sich solche hochwertigen Wohnungen mit der Genossenschaftsidee? „Wir reagieren hier auf die Nachfrage, die im Wohnungsmarkt Chemnitz herrscht“, sagt Lottig: „Das gehört zu unserer Verantwortung als Vorstand.“ Zu dem gehört seit Anfang September auch der ehemalige Chemnitzer Baubürgermeister Michael Stötzer – als Technischer Vorstand. Insgesamt beschäftigt die CSg aktuell 80 Mitarbeitende.

Wartelisten für etwa 20 bis 25 Prozent der CSg-Objekte geben Lottig in seiner Mietpolitik recht. Für Neuvermietungen wurde für solche Fälle extra ein Kriterienkatalog entwickelt, um gefragte Wohnungen nicht nach Geldbeutel, sondern nach sozialen Aspekten zu vergeben. Doch ohnehin sieht Lottig die soziale Verantwortung einer Genossenschaft nicht mit möglichst geringen Mieten erfüllt. „Die Vorteile der Genossenschaft sind andere. Etwa das lebenslange Recht auf Wohnen in einer Genossenschaftswohnung. Die Nutzung der Spareinrichtung und anderer Dienstleistungen der Genossenschaft. Die Bereitstellung von Räumlichkeiten fürs Gemeinwohl, das Angebot zu gemeinsamen Veranstaltungen.“ Über 250 solcher Veranstaltungen gibt es jährlich, vom regelmäßigen PC-Treff über den Kaffeeplausch mit Handarbeiten bis zur Vorlesestunde oder gemeinsamen Ausfahrten. „Damit wollen wir ein Stück Heimat bieten“, so Lottig. Viele der Mitglieder seien zudem ehrenamtlich für die CSg im Einsatz, etwa in Sozialteams.

Und dann dürfen Mitglieder ja auch noch über die Geschicke der Genossenschaft mitbestimmen. Regelmäßig finden Wahlen zu einer Vertreterversammlung statt, diese wählt anschließend einen Aufsichtsrat. Letzterer bestellt den Vorstand und überwacht ihn. Gemeinsam mit dem Vorstand bestimmt der Aufsichtsrat beispielsweise das Neubau- und Modernisierungsprogramm, das Konzept für den Rückbau von Gebäuden oder die Grundsätze für den Verkauf von Genossenschaftseigentum.

Die Vertreterversammlung ist vor allem für die großen Linien zuständig – etwa die Verwendung von erwirtschafteten Gewinnen oder auch die Auflösung der Genossenschaft. „Die Einflussnahme auf die Genossenschaft erfolgt für das einzelne Mitglied also vorwiegend durch die Ausübung des Wahlrechts“, so Lottig. „Auch das trägt dazu bei, Genossenschaften arbeits- und zukunftsfähig zu halten. Ich jedenfalls bin ein Fan von dieser ganz besonderen Rechtsform einer wirtschaftlichen Gesellschaft.“

„Der Chemnitzer Wohnungsmarkt bedeutet für uns regelmäßig einen wirtschaftlichen Spagat bis zur Zerreißprobe.“

Ringo Lottig, Vorstand der Chemnitzer Siedlungsgemeinschaft e.G.

Ringo Lottig (CSg-Vorstandsvorsitzender)

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