Was braucht es um ein internationales Festival zu schaffen? Und was bringt es? CHEMNITZ INSIDE hat nachgefragt, wie Kulturschaffende Chemnitz mit Europa vernetzen.
OFF-EUROPA: Das Publikum ist noch nicht satt
Durch weit geöffnete Fenster dringt der Lärm der Chemnitzer Zietenstraße. Zwei runde Tische mit Kaffee und Kuchen stehen eine Armlänge voneinander entfernt, damit Abstandhalten leichter fällt. Eine milde Oktobersonne bescheint das Café der Off-Bühne „Komplex“. Es ist Kaffeepause für den Chemnitzer Teil des Theater-, Performance-, Tanz- und Filmfestivals „Off Europa“. Vielleicht nehme sich jeder seinen Kuchen selbst, wegen Corona, schlägt Festivalleiter Knut Geißler vor. Jener Donnerstag, der 22. Oktober, ist für Chemnitz der zweite Tag der diesjährigen Auflage des Festivals. Agata Maszkiewcz und Rafał Dziemidok, die Teil der Kaffeerunde sind, schauen ihren Tanz-Performances an den kommenden beiden Abenden entgegen. Knut Geißler hingegen hat den größten Teil seiner Arbeit am Festival bereits hinter sich.
„Off Europa“ wurde 1992 in Leipzig mit dem Namen „MANöVER“ gegründet. Es setzt sich mit dem zeitgenössischen Theater, dem Tanz und der Performancekunst von Ländern auseinander, deren Kunst und Kultur in Mitteleuropa sonst nur wenig wahrgenommen werden. Rumänien, die Nachfolgestaaten Jugoslawiens und die baltischen Staaten wurden in der Vergangenheit unter anderem betrachtet. Seit 2008 findet „Off Europa“ auch in Dresden statt, zehn Jahre später kam es dann ebenfalls nach Chemnitz. Die Chemnitzer Schauspielerin und Kulturorganisatorin Heda Bayer und Knut Geißler kennen sich von einem Festival in Prag, das sie regelmäßig besuchen. Bereits Anfang 2017 hatte Heda Bayer Knut Geißler das damals noch unfertige Gebäude der Off-Bühne „Komplex“ gezeigt. Dass dort bald Tanz, Theater und Performance stattfinden würden, konnte er sich damals noch nicht vorstellen. Er fände es „für dieses Jahr zu mutig“, sagte er damals zu Heda Bayer. Seit 2018 gehört das „Komplex“ zu den festen Spielstätten von „Off-Europa“.
Die Vorbereitung ist die eigentliche Arbeit
Für Knut Geißler ist die Vorbereitung die eigentliche Arbeit an „Off-Europa“. Einen großen Teil macht dabei die Recherche aus: Welche Künstlerinnen und Künstler kommen für das Festivalthema infrage, in welche Spielstätten passen sie? Manchmal kommt etwas im Programm unter, das Knut Geißler aus der Vergangenheit kennt, „aber im Großen und Ganzen ist es frisch zusammengesuchte Ware“, sagt er. Dafür reist er in das jeweils thematisierte Land, besucht unter anderem Tanzplattformen. In diesem Jahr setzte sich das Festival mit Polen auseinander. „Identität Polska“ lautete der Titel.
Im Laufe der Vorbereitungen reiste Knut Geißler sechsmal in das Land. Dort schaute er beispielsweise: Hat ein Sprechtheaterstück zu viel Text? Kann es einem nicht polnischsprachigen Publikum mit Untertiteln verständlich gemacht werden? Welche Spielstätten des Festivals haben die räumlichen und technischen Voraussetzungen für eine Performance? Für ein Puppen- und Objekttheater dieses Jahres gab es beispielsweise in Dresden und Leipzig jeweils eine geeignete Spielstätte – für Chemnitz war es zu groß. Für die Künstler ist es aber gut, wenn sie nicht nur einen Auftritt haben, sondern mindestens zwei. Je nach Entfernung ihres Wohnsitzes kann es sonst sein, dass sich die Anreise für sie nicht lohnt. Doch auch die vorhandenen Kulturlandschaften in Dresden, Leipzig und Chemnitz hat Knut Geißler bei der Planung vor Augen. Er bringt gezielt Dinge in die Städte, um „Löcher zu füllen“, sagt er. Ob eine Aufführung in der Off-Bühne „Komplex“ Sinn ergibt, bespricht er jeweils mit Heda Bayer. Da sie selbst Schauspielerin ist, bringe sie eine andere Perspektive in den Entscheidungsprozess ein, so Knut Geißler.
"Die eigentliche Arbeit ist die Recherche vor dem Festival."
Knut Geißler, Leiter des Festivals "Off-Europa".
Das Ergebnis war in diesem Jahr ein Programm von polnischen Performances, das in Polen nicht so zusammengestellt worden wäre, findet Agata Maszkiewcz. Es seien sehr unterschiedliche Künstler bei „Off Europa“ aufgetreten, die sich in Polen nicht begegnet wären. Das Programm sei sehr vielfältig gewesen, für verschiedene Geschmäcker, ergänzt Rafał Dziemidok. Die Stadt, in der sie auftreten, sei für sie von geringerer Bedeutung. Am wichtigsten ist für sie, dass die Spielstätte zu ihnen und ihren Performances passt. Für Rafał Dziemidok bedeutete dies, dass er nicht auf der „Komplex“-Bühne, sondern in der Galerie Borssenanger auftrat.
Als Besonderheit des Chemnitzer Publikums ist Knut Geißler aufgefallen, dass nach den Performances automatisch Diskussionen über das Erlebte beginnen – während es in Leipzig teilweise von der Stadt angesetzte Diskussionen gebe, zu denen kaum jemand komme. Genau dieser Austausch gehört zu ihren Bedürfnissen, sagen Agata Maszkiewcz und Rafał Dziemidok. Heda Bayer, die selbst schon an vielen Orten aufgetreten ist, hat in kleineren Städten schon oft die Erfahrung gemacht, dass das Publikum intensiver den Austausch sucht. Denn dort sei das Publikum „noch nicht satt genug“ und deshalb in den Diskussionen danach „offener, ehrlicher. Manchmal ein bisschen ungehobelt, aber das ist gut so. So kommt man richtig ins Gespräch“. In Prag hat sie manchmal das Gefühl, dass manche Performances nicht gebraucht werden. In Chemnitz hingegen hinterließen dieselben Auftritte „die guten Spuren“.
POCHEN: Nur bei echtem Austausch ergibt Vernetzung Sinn
Ohne diesen echten wechselseitigen Austausch ergibt internationale Vernetzung für Benjamin Gruner keinen Sinn. Er ist der Projektleiter der POCHEN-Biennale für multimediale Kunst. 2018 brachte das POCHEN-Team Kunst in die einstige Hartmannfabrik. Damals war es laut Benjamin Gruner das Ziel, „eine wertige Ausstellung für die Stadtgemeinschaft zu schaffen“. 2020 war die Ausstellung wieder in einem einstigen Industriegebäude: im Chemnitzer Wirkbau, in welchem einst Wirkmaschinen für die Textilindustrie hergestellt wurden.
Das Thema diesmal: die Treuhandanstalt, welche die Volkseigenen Betriebe der DDR modernisieren und für die Marktwirtschaft fit machen sollte – tatsächlich aber wickelte die Treuhand den Großteil der Unternehmen ab. Bei der Bearbeitung dieses Themas wollte das Team auf Europa zugehen. Dabei waren vier Fragen wichtig, so Benjamin Gruner: „Warum mache ich das?“ „Welche Perspektiven möchte ich erlangen?“ „Haben wir ein gemeinsames Ziel?“ „Geht es um ein wahrhaftiges Voneinander-Lernen?“
2019 fand deshalb das POCHEN-Symposium statt, zu dem fünf europäische Partnerfestivals eingeladen waren. Den Gästen wurde Chemnitz vorgestellt und darüber gesprochen, was die Schwächen der Stadt sind, was die Stärken, wo ihre Bedarfe liegen, was ein Festival beitragen kann. Zu einigen der Festivals bestanden schon vorher lose Kontakte, Benjamin Gruner reiste während der Biennale-Vorbereitungen zudem nach Wroclaw und Ljubljana. Alles waren aber Festivals, deren Arbeit und Auftreten das POCHEN-Team schätzt.
Dabei fiel die Entscheidung bewusst darauf, Gäste mit unterschiedlichen Perspektiven einzuladen. So war es laut Benjamin Gruner etwa für die Gäste aus Italien mit ihrer westeuropäischen Sozialisation „spannend zu sehen, dass es eine Stadt in Deutschland – einem westeuropäisch geprägten Land – gibt, die mehr Osteuropa zugewandt ist“. In der 2020er Biennale setzte sich das aus Modena stammende Kunststudio Fuse schließlich mit dem Begriff der Treue auseinander, fand eine Bildsprache für das dahinter stehende Konzept.
Andere Perspektiven durch andere Sozialisation
Also auch, wenn Menschen aus anderen Ländern keine Erfahrung mit der Treuhandanstalt gemacht haben: „Wir greifen uns Facetten heraus und lassen sie durch die Lupe des Künstlers betrachten“, sagt Benjamin Gruner. Doch auch, wenn die ganz andere Perspektive durch eine andere Sozialisation spannend sein kann – bei längerer gemeinsamer Arbeit an einem Thema findet Benjamin Gruner die Zusammenarbeit mit Menschen aus Nachbarländern naheliegender. „Jemandem aus Tschechien erklär ich Chemnitz schneller als jemandem aus Paris“, so Benjamin Gruner. So könne man bei der Arbeit schneller in die Tiefe tauchen. Aus sechs verschiedenen Ländern stammten die Ausstellenden in diesem Jahr: neben Italien aus Deutschland, Griechenland, Slowenien, Polen und der Ukraine.
„Chemnitz wird nicht mehr als hässliches Entlein von Sachsen wahrgenommen, sondern als Ort im Aufbruch.“
Benjamin Gruner, Leiter des "Pochen"-Festivals.
Dass die Zusammenarbeit im Rahmen von POCHEN gelungen ist, zeigt sich nach Benjamin Gruners Ansicht unter anderem dadurch, dass er von der Wroclaw Biennale eingeladen wurde, Mitglied der Jury zu werden, die einen Medienpreis an Absolventen des Kunststudiums in Polen verleiht. Er freut sich darüber. Für das noch junge POCHEN-Festival. Und darüber, dass auf diese Art der Name Chemnitz nach Europa dringt – mit einer positiven Konnotation. Bisher war Chemnitz in der europäischen Kulturszene nicht sehr präsent – und die zu POCHEN eingeladenen Künstlerinnen und Künstler freuten sich über die Arbeit und die Möglichkeiten in Chemnitz. In den vergangenen drei Jahren hat sich aus Gruners Sicht viel in Chemnitz getan, schon seit Beginn des Bewerbungsprozesses um den Titel als Kulturhauptstadt 2025 habe Chemnitz und dessen Umgebung sehr profitiert. „Chemnitz wird nicht mehr als hässliches Entlein von Sachsen wahrgenommen, sondern als Ort im Aufbruch“, sagt er.
Außerdem sieht Benjamin Gruner in Kultur den Grundstein dafür, dass Touristinnen und Touristen nach Chemnitz kommen, dass es einen positiven öffentlichen Diskurs über die Stadt gibt, „dass die Stadt weiter prosperiert“. Seine Erfahrung mit dem POCHEN hat Benjamin Gruner aber gezeigt: „Wenn ich den Anspruch an mein Projekt habe, dass es europaweit wahrgenommen wird, muss ich in europäischer Qualität arbeiten. Dazu muss ich wissen: Welche Themen muss ich aufgreifen, welche Arbeitsweisen?“
Jetzt, wo Chemnitz den Kulturhauptstadttitel gewonnen hat, ist genau das die neue Aufgabe: Projekte und Szene auf europäisches Niveau zu heben. Nicht nur in der Kultur im engeren Sinne – Benjamin Gruner vertritt einen Kulturbegriff, der auch Sport mit einschließt. Zu schaffen ist diese neue Aufgabe seiner Meinung nach nur gemeinsam mit Partnern und Partnerinnen aus Europa. Nur so sei es Kulturschaffenden möglich herauszufinden, ob ihre Ansprache im europäischen Kontext zeitgemäß ist und ob sie Innovationen in den europäischen Kulturkontext einbringen.