Oberflächlich betrachtet, sieht alles ganz gut aus: In Chemnitz werden Wohnungen gebaut und Altbauten saniert. Die Angebotsmieten steigen moderat, große Viel-Raum-Wohnungen sind ein knapperes Gut als die klassische Zwei-Raum-Wohnung mit Bad und Küche. Ein Wohnungsmarkt im Gleichgewicht also? Eher nicht: Nach wie vor gibt es in Chemnitz rund 25.000 Wohnungen mehr als es Haushalte gibt. Zuletzt wurde die Lücke sogar wieder größer: 2017 nahm die Zahl verfügbarer Wohnungen durch Neubau und Sanierung um 500 zu, während die Zahl der Haushalte nur um 70 stieg, wie eine Studie des Chemnitzer FOG-Instituts für Markt- und Meinungsforschung zeigen.
So bleibt der richtige Umgang mit Sanierungsstau und Leerstand eine Herkulesaufgabe für die Stadt, die nicht der Markt allein regeln wird. Welche Häuser und Wohnungen sind erhaltenswert? Wie unterscheidet man Investoren, die mit ihrer Sanierungsarbeit ein Quartier voranbringen können, von Spekulanten, die heute kaufen und morgen teurer verkaufen wollen, ohne zwischendurch etwas für die Gebäudesubstanz zu tun? Und was können Verwaltung und Akteure der Zivilgesellschaft zu einer gesunden Stadtentwicklung beitragen? Antworten auf solche Fragen werden auch in Europa gesucht.
Agentur StadtWohnen als Vorbild
„URBACT“ heißt ein Programm der Europäischen Union, in dem Chemnitz mitarbeitet, eine Zusammenziehung aus „urban“ und „action“, Aktionen für die Stadt. URBACT, so der Anspruch, will Städten dabei helfen, pragmatische Lösungen für Stadtentwicklungsprobleme zu entwickeln. Und weil viele Städte ähnliche Probleme haben, soll dies über die Form des Austauschs untereinander erfolgen. URBACT kürt erfolgreiche Programme und Methoden einzelner Städte zu „Good Practices“, die dann in europäischen Netzwerken an andere Kommunen weitergegeben werden sollen.
Chemnitz hat eine solche „Good Practice“ geliefert mit seiner Agentur StadtWohnen: Im Auftrag der Stadtverwaltung werden seit mehreren Jahren sanierungsbedürftige Altbauten identifiziert – und anschließend deren Eigentümer gezielt angesprochen: Warum passiert am Gebäude nichts, warum wird es nicht in einen bewohnbaren Zustand versetzt? Mangelt es an Ideen zur Nutzung? Fehlt es an Geld für die Sanierung? Ließe sich durch einen Eigentümerwechsel etwas bewegen? Die Agentur StadtWohnen – und hier besonders die WGS Westsächsische Gesellschaft für Stadterneuerung als Auftragnehmer der Stadtverwaltung – kümmert sich systematisch und kontinuierlich um diese Fragen, derzeit insbesondere in Stadtteilen wie dem Zentrum inklusive Brühl, dem Schlossviertel, dem Sonnenberg. Hier finden sich die innenstadtnahen Altbau-Quartiere, deren Erhaltung unter Aspekten der Stadtentwicklung besonders wünschenswert ist und die Agentur StadtWohnen konnte bei zahlreichen Altbauten ihren Beitrag zu Sanierung und Umnutzung leisten.
Sich selbst als europäische Stadt begreifen
„Die Auszeichnung als ‚Good Practice‘ 2017 hat gezeigt, dass dieses Projekt auch für andere Städte interessant sein könnte“, erklärt Grit Stillger, Abteilungsleiterin Stadterneuerung im Stadtplanungsamt der Chemnitzer Stadtverwaltung: „So entstand die Idee, sich um EU-Mittel für die Formierung eines URBACT-Netzwerks zu bewerben.“ Erster Schritt dabei sei, sich selbst als europäische Stadt zu begreifen, als ein Ort, der in Europa seit Jahrhunderten eine Funktion als Mittelpunkt des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens funktioniert. Der zweite Schritt war die Bewerbung als Lead-Partner des URBACT-Netzwerks „ALT/BAU“.
Weil diese Bewerbung erfolgreich verlief und die EU Geld für ein Transfer-Netzwerk zur Verfügung stellte, arbeitet Chemnitz jetzt seit gut zwei Jahren mit sechs anderen Städten aus ganz Europa zusammen. Die lettische Hauptstadt Riga ist dabei, die katalanische Kleinstadt Vilafranca del Penedès, die ehemalige Olympia-Stadt Turin und das belgische Seraing, die Kohlestadt Rybnik in Polen und schließlich das rumänische Constanța am Schwarzen Meer.
Ähnlicher Substanzverlust, auch wenn die Gründe unterschiedlich sind
Alle diese Städte gehören zu den eher schrumpfenden Städten, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen: Vilafranca droht zu veralten, weil es die Jugend eher ins nahe Barcelona zieht. Rigas jüngere, gut gebildete Einwohner wollen dank offener Grenzen und besser entlohnter Jobs gleich weiter nach Westeuropa. Constanța ergeht es ähnlich, zumal der eigene Schwarzmeerhafen an Bedeutung verloren hat. Seraing leidet unter dem Rückzug von Kohle- und Stahlindustrie aus Europa, Rybnik droht ein ähnliches Schicksal. Und Turin hat damit zu kämpfen, dass Fiat seit einigen Jahren kein italienischer Konzern mehr ist.
Auch im Bereich des Altbau-Managements wirken die Ausgangssituationen bei allen sechs Partnerstädten im Chemnitzer URBACT-Netzwerk ähnlich: Bausubstanz verfällt. Die Begründungen fallen unterschiedlich aus, wie man bei Besuchen in den Städten erfährt: In Vilafranca ist die Wohneigentumsquote wie überall in Südeuropa traditionell hoch – doch das hohe Alter vieler Eigentümer verhindert, dass diese noch einmal Geld für Sanierungen in die Hand nehmen. In Constanța hingegen weiß man vor allem in der historischen Altstadt bei vielen Gebäuden nicht, wem sie eigentlich gehören: Eine unheilige Allianz aus stetig wechselnden Regierungen, Korruption und langsamer Justiz hat für viele Gebäude in den vergangenen 30 Jahren unklare Eigentumsverhältnisse hinterlassen. Riga hingegen weiß, wem seine unsanierten Gebäude gehören – teilweise Spekulanten, die vor allem im Stadtzentrum horrende Preise aufrufen, die Kauf und Sanierung unrentabel machen würden. Teilweise auch russischen Banken, denen die hübschen Stadtvillen nicht bedeutsam genug für ein Investment erscheinen. In Seraing hingegen kämpft man mit gegensätzlichen Phänomenen: Einerseits hohem Leerstand, andererseits Überbelegung in kaum sanierten Wohngebäuden, weil skrupellose Eigentümer die Not von Einwanderern schamlos ausnutzen.
Aus diesen unterschiedlichen Gemengelagen heraus haben sich die Städte für die Teilnahme am URBACT-Netzwerk beworben, um die Idee der Agentur StadtWohnen zu transferieren, sie in ihre städtischen Strukturen zu implementieren. Ausgewählt wurden sie von den Chemnitzern als „Lead-Partner“: Einerseits, weil die Problemlagen ähnlich sind. Und andererseits, weil jede Stadt schon ihre eigenen Erfahrungen gemacht, ihre eigenen Ansätze entwickelt hat, wie man diese Probleme angehen könnte: „Wir wollen im Rahmen des Netzwerks nicht nur geben, sondern uns auch mit den anderen Städten austauschen, nicht im eigenen Sumpf versauern, sondern neue Ideen sammeln“, sagt Grit Stillger.
Wie lassen sich Eigentümer motivieren, in ihr Eigentum zu investieren?
Eine ähnliche Motivation hat Seraing bewegt, sich zu bewerben. „Teil des ATL/BAU-Netzwerks zu sein, treibt uns an, ein schlafendes Problem unserer Stadt anzugehen, über vorhandene Ressourcen und Lösungsmöglichkeiten in punkto Leerstand und Sanierungsstau nachzudenken“, erklärt Bénédicte Borckmans, die als Mitarbeiterin der kommunalen Wirtschaftsförderung die Netzwerk-Arbeit in der belgischen Stadt koordiniert. Nach dem Auftakt in Chemnitz im Sommer 2018 trifft sich das Netzwerk hier Anfang 2019 erstmals bei einem der Partner: Die Stadt befindet sich mitten im Umbau, erfahren die Mitglieder des Netzwerks, die aus ganz Europa den Weg hierher gefunden haben. Kohle- und Stahlindustrie haben eine Reihe von Industrieruinen hinterlassen, seit gut einem Jahrzehnt arbeitet man an einem neuen Stadtzentrum. Ein neues Null-Energie-Rathaus ist entstanden, ein Gründerzentrum, ein Food-Markt soll in die Hallen eines alten Stahlwerks einziehen und Gäste aus dem benachbarten Lüttich in die Stadt ziehen. Die neue Verkehrsinfrastruktur steht schon, jetzt müssen die Nachbarschaften entwickelt werden. Was könnte junge Menschen nach Seraing anziehen? Wie lassen sich Eigentümer motivieren, in ihre Häuser zu investieren? Was kann die Stadt selbst tun?
„Mapping“ ist der erste Punkt im Transfer-Plan, den alle Partner anzugehen haben: Sich einen Überblick verschaffen über den Leerstadt in der Stadt. Wo ballen sich Probleme, wem gehören die entsprechenden Häuser, was haben die Eigentümer damit vor? Seraing geht das Problem schnell an, die Wirtschaftsförderung stellt Studierende ein, die systematisch Straße für Straße abarbeiten. Andere Städte lösen das Problem anders: In Vilafranca werden Daten der Stadtwerke und der Energieversorger herangezogen – wo kein Wasser oder Strom verbraucht wird, muss Leerstand herrschen. Riga nutzt eine App und setzt auf die Aktivitäten der Einwohner: Bitte meldet leer stehende Gebäude. Constanta lässt Problem-Immobilien mit Aufklebern markieren.
In den ersten internationalen Netzwerk-Treffen, die in den Partnerstädten stattfinden, geht es viel um Strukturen: Wie sollte eine Agentur StadtWohnen aufgestellt sein? Als Teil der Verwaltung? In der Wirtschaftsförderung? In einem unabhängigen Unternehmen? Als eine Mischform wie in Chemnitz? Jede der Städte muss hier ihren eigenen Weg finden. Diskutiert wird dies nicht nur im internationalen Austausch, sondern auch in lokalen Aktionsgruppen – den URBACT Local Groups (ULG). Architekten und Eigentümer, zivilgesellschaftliche Akteure und Verwaltungsmitarbeiter sind hier integriert, die sich einbringen wollen in die Gestaltung ihrer Städte: „Vor allem bei unserem zweiten Besuch in Chemnitz im Dezember 2019 haben wir viel über die Einbindung lokaler Stake-Holder gelernt. Das ist für uns das wichtigste Thema“, berichtet Giuletta Fassino, Mitarbeiterin im „Torino Urban Lab“ und ULG-Koordinatorin in der italienischen Netzwerk-Stadt.
Und was wird aus der Chemnitzer Agentur?
Ihr Gegenpart in Chemnitz ist Frank Feuerbach, Stabsstelle Kommunalinvestitionen im Dezernat für Stadtentwicklung und Bau der Stadtverwaltung. Auch er hat eine ULG zusammengestellt: „Da wir keine Agentur StadtWohnen mehr entwickeln müssen, sind wir in unserer lokalen Arbeit etwas freier“, erklärt er: „Wir können schauen, was wir von den Partnern lernen können, und unsere eigene Arbeit der Vergangenheit reflektieren.“ Bei den Chemnitzer ULG-Treffen, die alle acht bis zehn Wochen stattfinden, geht es darum, ob die Arbeit der Agentur weiterhin nötig ist, ob man ihre Aktivitäten ausweiten sollte, etwa in andere Stadtteile hinein oder auf andere Gebäudearten, etwa brachliegende Flächen oder leere Industriehallen. „Wir haben uns dazu wissenschaftliche Expertise geholt, unsere Agentur evaluiert. Und wir diskutieren diese Fragen auch mit Akteuren über die Stadtverwaltung hinaus, beispielsweise mit Einwohnern, die sich selbst um die Aktivierung von Altbauten gekümmert haben, mit Eigentümern im Verband Haus und Grund, aber auch mit Investoren, die hier in Chemnitz aus unserer Sicht vorbildliche Sanierungen und Umnutzungen von Altbestand umgesetzt haben.“
Mehr Chemnitzer zu Hauseigentümern etwa in Genossenschaften oder ähnlichen Selbstnutzer-Gemeinschaften zu machen, könnte ein künftiges Ziel sein. Die Stadt Chemnitz mit einer Immobilienentwicklungsgesellschaft wieder stärker auf dem Wohnungsmarkt mitmischen zu lassen, wäre eine andere Option. Initiativen zur Zwischennutzung leerstehender Gebäude stärker zu unterstützen, eine dritte. „All das ist aber etwas, was über die Arbeit der ULG hinausgeht. Da geht es auch um politische Willensbildung, die letztlich aus der Stadtgesellschaft heraus und über den Stadtrat erfolgen muss“, so Feuerbach. So nimmt er aus der bisherigen URBACT-Arbeit vor allem mit, wie man mit kleinen Teams und klarer Aufgabenstellung schnell so manches Ziel erreichen kann: „Mit welcher Handlungsschnelligkeit unsere Partnerstädte vorgehen, ist wirklich beeindruckend. Das ist etwas, was bleibt – und was letztlich auch unser Verwaltungsdenken beeinflussen wird.“ vtz
Hinweis: CHEMNITZ Inside-Chefredakteur Volker Tzschucke ist als Gründungsvorstand der Brühlpioniere e.G., einer 2013 gegründeten Genossenschaft zur Reaktivierung von Gebäuden auf dem Brühl-Boulevard in Chemnitz, Mitglied der Chemnitzer ULG im ALT/BAU-Netzwerk und hatte Gelegenheit, an internationalen Netzwerktreffen in mehreren Städten teilzunehmen.