Wirtschaft, Lebensart & Kultur für Netzwerker
Wirtschaft

#ALDA

Die Ältesten

Ist die Demografie eine Chance für Chemnitz?

Es ist eine Aussage, mit der man Kinder und Enkel erschrecken kann: „Chemnitz ist die älteste Stadt Europas.“ Und auch, wenn dies in seiner Absolutheit nie gestimmt hat (in manchen Statistiken war Chemnitz zweitälteste Großstadt Deutschlands, in anderen die Region um Chemnitz die älteste Region Europas), ist doch klar: Wir sind alt. 47 Prozent der Chemnitzerinnen und Chemnitzer, so die Zahlen mit Stand 31. Januar 2023, sind älter als 50 und zählen damit nicht mehr zu dem, was einst „werberelevante Zielgruppe“ hieß. Mehr als ein Drittel ist älter als 60, da ist es mit dem Erwerbsleben im Regelfall fast vorbei. Über ein Fünftel hat den 70. Geburtstag bereits erlebt. Fast jeder Zehnte ist älter als 80. Schon Ende 2020 war die Zahl der Rentnerinnen und Rentner in der Stadt fast doppelt so hoch wie die aller unter 18-Jährigen, haben die Statistiker von INFO-CIRCLE Chemnitz-in-Zahlen.de ausgerechnet.

Doch was macht man mit diesen Fakten? Die Wirtschaft schlägt regelmäßig Alarm: Für zwei in die Rente ausscheidende Berufstätige rückt nur einer nach, heißt es. Die Demographie wirkt insbesondere hinsichtlich der Fachkräfteproblematik erdrückend: Wer soll all die künftigen Rentnerinnen und Rentner ersetzen? Weil Frauen im Osten ohnehin schon ziemlich oft erwerbstätig sind, fallen sie als zusätzliche Ressource aus. Jugendliche tun sich partiell in der Schule schwer und wollen ganz allgemein künftig eigentlich weniger hart ran müssen als ihre Eltern- oder gar die Großelterngeneration. Nicht nur ausländische Studierende ziehen nach dem Abschluss an den regionalen Hochschulen gern in deutsche Hochlohn-Regionen. Und Zuzug von ausländischen Fachkräften – nun ja, die Politik tut sich schwer damit, weil ein größerer Teil der aktuellen Wohnbevölkerung mit der Idee fremdelt. Woher also die Arbeitskräfte der Zukunft nehmen?

Ältere Arbeitnehmende als Ressource

„Warum gibt es die Idee der Senior Experts eigentlich nur fürs Ausland und nicht für regionale Unternehmen?“, fragt Mario Geißler. Er, eine Reihe von Jahren Juniorprofessor für Unternehmensgründung und Innovationsforschung an der TU Chemnitz und heute Geschäftsführer des QHub und Mitglied des Wirtschaftsbeirats der Stadt, ist einer der Vordenker des Themas „Wirtschaft und Alter“ in der Stadt, doch dazu später mehr. Zunächst die Arbeitskräftefrage: „Viele Menschen wollen sich auch im Alter noch beruflich einbringen“, weiß Geißler, und Statistiken geben ihm Recht. Mindestens jeder fünfte Ostdeutsche würde auch im Alter gern einer Erwerbstätigkeit nachgehen, einer Untersuchung des Versicherungsunternehmens AXA zufolge vor allem, weil man Spaß an der Arbeit hat, sich noch gebraucht fühlt – und ein Teil auch aus finanziellen Gründen.

Doch nur einem Bruchteil gelingt es tatsächlich, das Erwerbsleben nach dem Renteneintritt fortzusetzen. Wer beim bisherigen Arbeitgeber bleiben will, hat noch vergleichsweise gute Chancen, weiß der Report „Generationen 65+ in Sachsen“ des Sächsischen Staatsministeriums für Soziales. Den Arbeitgeber zu wechseln, gelingt hingegen äußerst selten. Deshalb bezieht die Fachkräftestrategie der Staatsregierung ältere Arbeitnehmende explizit ein, wenn es um die Fachkräftefrage geht: „Dies soll unter anderem durch einen Neuzuschnitt der Aufgabenverteilung erfolgen. Ältere könnten beispielsweise im Rahmen von Jobtandems jüngeren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen zur Seite stehen und ihr Erfahrungswissen an die nächste Generation weitergeben“, heißt es aus dem Sozialministerium. Eine Fachkräftebörse gezielt für Ältere, die in regionalen Unternehmen arbeiten wollen, wäre ein erster Schritt. Eine Personalpolitik, die ältere Erwerbstätige stärker mitdenkt – etwa in Fortbildungsschritten und flexiblen Arbeitszeitmodellen – ein nächster. „Chemnitz könnte hier eine Vorreiterrolle einnehmen“, denkt Mario Geißler: „Man könnte zeigen, wie man den demographischen Wandel als Chance für die Wirtschaft begreift, und so zum Vorbild für alle Industrienationen werden, die das Thema früher oder später ebenso ereilt.“

Die Chance auf ein komfortables Leben

Dies ist ein Gedanke, den Geißler bereits seit mehreren Jahren durchspielt, und dies auch abseits der Fachkräfteproblematik. Er etablierte den Begriff „Age Tech“ in der Stadt – „Technik fürs Alter“. „Im angloamerikanischen Raum, aber auch in Israel ist Age Tech ein fester Begriff, allerdings sehr auf die Themen Gesundheit und Pflege ausgerichtet. Wir haben versucht, das ein wenig auszuweiten.“ Statt über das Schrumpfen der werberelevanten Zielgruppe zu lamentieren, will er den älteren Teil der Bevölkerung als Markt entdecken. Und so geht’s bei Age Tech für ihn vor allem um altersgerechte Geschäftsmodelle. Schließlich gehe es bei den heute 65- oder 70-Jährigen in den meisten Fällen noch nicht um Gesundheitsfragen: „Es geht um ein komfortables Leben und gesundes Altern“, erläutert er und benennt gleich eine Reihe von Beispielen: „Niemand will ein Seniorenhandy kaufen – aber alle wollen ein Handy mit einer nutzerfreundlichen Oberfläche. Ein E-Bike ist auch kein seniorenspezifisches Produkt – aber es erhöht die Mobilität im Alter, ist ein echter Freiheitsgewinn. Und eine bodentiefe Dusche macht ebenso Freude, egal ob sie 30, 50 oder 70 sind.“

Wohnxperium_Chemnitz_Toni_Soell_2675_1

"Niemand will ein Seniorenhandy kaufen – aber alle wollen ein Handy mit einer nutzerfreundlichen Oberfläche."

Mario Geißler, Geschäftsführer des Q-Hub

Dr Mario Geissler

In den meisten Fällen brauche es keine spezifischen Produkte fürs Alter, sagt Geißler – sondern Produkte, die jedes Alter nutzen kann: „Ich bin noch keine 50 und freue mich trotzdem über einen Fahrkartenautomaten, den ich verstehe.“ Chemnitzer Beispiele würden zeigen, dass es sich lohnt, über altersgerechten Komfort nachzudenken: „Über die breiten Gänge im ‚Supermarkt der Generationen‘ freut sich auch die Mutti mit Kinderwagen – und es ist ein Beispiel, von dem viele gelernt haben.“ Ob Fitnessstudios für Ältere, der Umbau im Wohnungsbestand bei zahlreichen Wohnungsgesellschaften in der Stadt (siehe auch Seite 20ff) oder das WohnXperium von Institutionen der Wohnungs- und der Pflegewirtschaft (siehe auch Seite 57) – ein paar Beispiele fallen Geißler ein auf die Frage, inwieweit die Chemnitzer Wirtschaft sich auf ältere Kunden einstellt.

Doch wirkt so manches noch, als sei es eben aus der Not heraus geboren, nicht, weil jemand eine Chance ergreift. „Für große Innovationen muss man branchenübergreifend denken“, weiß Geißler: „Das ist die große Herausforderung.“ Deutschlandweit gebe es da tolle Gründungen – vor allen im Dienstleistungsbereich: „Häufig geht es um Digital Literacy, also darum, die Zugänglichkeit von digitalen Produkten zu verbessern.“

Regelmäßig hat Geißler in den vergangenen Jahren solche Unternehmen in die Stadt eingeladen, auch, um sie ihre Produkte und Dienstleistungen testen zu lassen: 150 ältere Chemnitzerinnen und Chemnitzer hatte er zum „Age Tech Living Lab“ zusammengefasst, sie probierten aus und gaben Start-ups aus Hamburg, München, Berlin oder Stuttgart Feedback – auch so eine Idee, die aus den Chemnitzer Gegebenheiten einen Standortvorteil macht. „Leider funktioniert so ein Konzept nur, wenn es eine Förderung dafür gibt – Start-ups sind sehr preissensibel, weil das Geld ohnehin knapp ist.“ Und die Förderung, die Geißler hatte, ist ausgelaufen.

Staffelstab-Übergabe für Age-Tech-Konferenz

Auch zur Age-Tech-Konferenz hatte Mario Geißler regelmäßig eingeladen – von 150 Teilnehmenden stammten mehr als 70 Prozent nicht aus Chemnitz. 2021 war Michael Rieß als Gast dabei. Der ist als einer der Geschäftsführer von „Die Sportmacher“, Organisatoren des Firmenlaufs in Chemnitz und deutschlandweit, bekannt: „Auch ich habe mich gefragt: Gibt es ein Laufalter – und was macht die Demographie mit unserem Geschäftsmodell?“, erläutert er, warum er bei der Konferenz dabei war. Inzwischen hat er, eventerprobt, wie er ist, den Staffelstab zur Organisation des Ereignisses übernommen.

„Mich hat das Thema Altern privat beschäftigt, aber auch gesamtgesellschaftlich interessiert“, erklärt Rieß seine Motivation: „Momentan geben wir uns viel Mühe, kranke Menschen möglichst lang am Leben zu erhalten – wir sollten uns aber bemühen, Menschen möglichst lang gesund zu erhalten. Das ist ein Diskurs, den wir führen müssen.“

Am Standort Chemnitz will er dabei festhalten: „Hier sind wir im Durchschnitt fünf Jahre älter als anderswo – also macht es hier auch am meisten Sinn“, sagt er: „Theoretisch bieten wir alle Voraussetzungen für ein Reallabor für Start-ups und Geschäftsmodelle.“ Dabei gehe es nicht nur um die ältere Bevölkerung: „Um als Stadt zu überleben, müssen wir die Frage beantworten, wie sich sowohl ältere wie auch jüngere Menschen hier wohlfühlen können. Wir müssen uns vorbereiten auf den Zeitpunkt, wenn wir wirklich die älteste Stadt Europas sind.“

Bei seinen Ideen findet er in der Chemnitzer Stadtverwaltung ein offenes Ohr. Ziel sollte es deshalb sein, Akteure aus der Stadt stärker für das Thema Age Tech zu sensibilisieren, beginnend in den kommunalen Unternehmen, darüber hinaus aber auch in Industrie, Handwerk oder Dienstleistungsbranche: „Wir müssen dabei auch die Themen Wohnen und Pflege wieder stärker mitdenken“, glaubt Silvana Bergk, Leiterin des Geschäftsbereichs Wirtschaft im Chemnitzer Rathaus: „Wir machen da derzeit noch zu wenig. Es ist wie beim Klimawandel: Wir kennen alle Fakten, handeln aber noch zu wenig.“

"Theoretisch bietet Chemnitz alle Voraussetzungen für ein Reallabor für Start-ups und Geschäftsmodelle."

Michael Rieß, Geschäftsführer Die Sportmacher GmbH

bayomi_1440

Reallabor Chemnitz

Dann sprudeln die Ideen aus ihr heraus: Kombinationen aus Altersheimen und Kindergärten könnte sie sich vorstellen – als ein Weg gegen Einsamkeit im Alter. Könnte man Lieferdienste von Apotheken womöglich mit dem ÖPNV vernetzen, um Mobility on Demand zu schaffen? Welche Angebote brauchen die städtischen Kultureinrichtungen, wenn die Bevölkerung immer älter wird? Ließe sich eine digitale Plattform entwickeln, mit der man junge Start-ups mit erfahrenen Ingenieuren verbindet? Und wie müsste man Arbeitsumfelder gestalten, damit ältere Arbeitnehmer sich länger wohlfühlen?

Fragen über Fragen, die zunehmend – diesen Eindruck hat man – gemeinsam angegangen werden sollen. Vielleicht finden sich in der Stadt – und damit ist nicht nur die Verwaltung gemeint – die passenden Ressourcen. Einen ersten Testfall dafür gibt es am 19. Oktober: Dann wird in diesem Jahr nicht zur Age-Tech-Konferenz eingeladen, sondern zum Age-Tech-Forum. Mit hoffentlich 70 Prozent Teilnehmenden aus Chemnitz.

Leseempfehlungen

Weitere Seiten, die Sie interessieren könnten.