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"40, 50 Jahre - das sind die Horizonte in der Stadtplanung"

Wer Freiberg besucht, kann sich wohlfühlen. Wer dort lebt, auch, das bestätigen regelmäßige Studien. Chemnitz Inside traf Bürgermeister Martin Seltmann zum Gespräch über richtige Weichenstellungen der Vergangenheit und die Herausforderungen des ökologischen Stadtumbaus in Klein- und Mittelstädten.

Herr Seltmann, in der Studie Vitale Innenstädte, die alle zwei Jahre durchgeführt wird, schneidet Freiberg regelmäßig sehr gut ab. Was machen Sie besser als andere Bürgermeister?

Das ist sicher kein Lob, das mir gebührt, sondern das für die städtische Politik der vergangenen 30 Jahre ausgesprochen wird. In Freiberg hat man gleich zu Beginn der 1990er Jahre verstanden, dass wir eine Wohn-Altstadt sein wollen – und sich dann konsequent an diesem Ziel orientiert. Gebäude in der Altstadt müssen ab der 2. Etage mit Wohnraum ausgestattet sein, gewerbliche oder Büronutzung ist also beschränkt. Das hat dazu beigetragen, dass von unseren 42.000 Einwohnern 4.200 in der Altstadt wohnen. Das sorgt schon allein für Leben in der Innenstadt.

Das allein kann es nicht sein, oder?

Nein, es müssen viele Faktoren zusammenkommen, die man einzeln stärken und nutzen kann. Wir haben inzwischen eine weitgehend stabile Einwohnerzahl. Mit kleinen Dellen zwar, aber durch Zuwanderung bleiben wir über 42.000. Wir haben eine gute Industrie, wir haben auch die TU Bergakademie als großen Arbeitgeber. Wir haben eine gesunde Mischung aus aktiven Gewerbetreibenden und Händlern. Außerdem sind wir als Kreisstadt auch Verwaltungsstandort, das Umland strömt also immer wieder für den einen oder anderen Verwaltungsakt nach Freiberg. Wir sind auch touristisch attraktiv mit dem Dom, den Silbermann-Orgeln, der „terra mineralia“ und – jüngster Schub – mit dem Welterbe Montanregion. Und wir haben eine Feierkultur etabliert mit Bergstadtfest und Weihnachtsmarkt sowie kleineren Events dazwischen. Es lohnt sich also, immer wieder nach Freiberg zu kommen. Am Ende ist für Handel und Gastronomie aber sicher die Kaufkraft entscheidend – und der Wunsch der Bevölkerung nach regionalen Angeboten.

Manches von dem, was Sie aufzählen, gab es vor 30 Jahren noch nicht…

Die „terra mineralia“ zum Beispiel, ja, aber es ließe sich Weiteres aufzählen. Wir haben zum Beispiel auch unsere Stadtbibliothek in die Innenstadt geholt, einen weiteren Publikumsmagneten, aber auch eine große Investition. Wir haben Häuser am Obermarkt gekauft und saniert, um hier Verwaltungsaufgaben anzusiedeln, auch das hat Geld gekostet. Aktuell bauen wir unser Stadt- und Bergbaumuseum aus. Insgesamt sind in den vergangenen 33 Jahren fast eine Milliarde Euro aus privaten und öffentlichen Mitteln in die Innenstadt geflossen, davon 160 Millionen aus Fördermitteln. Die Stadt war immer in der Lage, die notwendigen Eigenmittel bereitzustellen. Das ist der guten Wirtschaftsstruktur zu verdanken. Bei all dem ging es uns darum, ein attraktives Bild zu erzeugen, aber ein Bild mit Funktionen.

Außenansicht_Kornhaus

Beendet ist so ein Prozess sicherlich nie…

Nein, das geht stetig weiter. Inzwischen investieren wir verstärkt in die Aufenthaltsqualität, wollen eine Stadtstruktur mit Verweilflächen schaffen. Damit Besucher nicht nur schnell rein und schnell wieder rauskommen, sondern eine Weile bleiben.

In einer kompakten Altstadt wie Freiberg konkurrieren solche neuen Flächen besonders stark mit bisherigen Nutzungen, also zum Beispiel dem fahrenden und ruhenden Autoverkehr. Wie lösen Sie das?

Wir suchen für uns einen Mittelweg. Wir haben zum Beispiel einige Fußgängerzonen geschaffen oder in anderen Straßen Parkplätze eingespart und durch Ruhe- und Grünbereiche ersetzt. Das ist aber in einer Innenstadt, wo auch Autobesitzer wohnen oder der Parkplatz in der Nähe ein Vermietungsargument ist, immer ein Aushandlungsprozess. Vor jeder Maßnahme laden wir deswegen zum Beispiel Hauseigentümer und Gewerbetreibende zu Veranstaltungen und Gesprächen ein, um „Planung am Bedarf vorbei“ zu verhindern. Nachdem wir 2020 unsere Humboldtstraße von der überwiegenden Autonutzung hin zur Gleichberechtigung unterschiedlicher Nutzungsformen umgebaut haben, kommt bei neuen Maßnahmen übrigens oft die Frage: Das wird doch bitte so wie in der Humboldtstraße? Die Aufenthaltsqualität ist den Menschen wichtiger geworden.

Mit dem Einzug der Elektromobilität kommt die nächste Herausforderung. Wie bringen Sie die notwendige Infrastruktur in Ihrer Altstadt unter?

Dass jeder E-Auto-Besitzer seinen reservierten Parkplatz inklusive Ladesäule vor der Haustür bekommt, wird wohl nicht gehen, zumal wir für die Altstadt auch eine restriktive Regelung bezüglich Solarflächen auf Dächern haben. Wir haben eine Dachlandschaft, auf die wir stolz sind und die wir nicht einfach aufgeben wollen. Hier ist jede Erlaubnis eine Einzelfallentscheidung, die mit dem Denkmalschutz abgestimmt werden muss und den Erlebnisraum Stadt nicht beeinträchtigen darf. Bei aktuellen Straßensanierungen verlegen wir natürlich leistungsfähige Leitungen für künftige Ladeinfrastruktur. Aber überwiegend wird es eher um die Ausstattung größerer Parkflächen mit ausreichend Ladegelegenheiten gehen als um singuläre Säulen. Da denken wir in unserer Altstadt sehr ähnlich wie in den Großwohngebieten am Stadtrand – auch da bekommt nicht jeder die private Säule.

Wo wir beim Thema Ökologischer Stadtumbau sind: Großstädte wie Leipzig bauen sich zu „Schwammstädten“ um, die besser gegen Hitze und Trockenheit, vor allem aber auch gegen ergiebigen Regen gerüstet sind. Ist das für eine Stadt wie Freiberg ein Thema?

Dass es ein Thema sein sollte, haben wir beim Dauerregen und den Flutereignissen im Mai und Juni in Süddeutschland gesehen. Ob man es dem Klimawandel anlastet oder nicht – Fakt ist: Die Temperaturen steigen und die Luft nimmt damit mehr Wasser auf und regnet ab, immer öfter auch in Starkregenereignissen. Wir haben in Freiberg Stadtteile, da läge die Vorwarnzeit bei einer drohenden Flut bei acht Minuten – angesichts dieser Zahl wird dem Letzten klar, dass es Handlungsbedarf gibt.

Also erhält jetzt in Freiberg auch jede Bushaltestelle eine Dachbegrünung?

Nein, das ist für eine Mittelstadt schlicht nicht leistbar. Dafür ist unser Bauvolumen insgesamt zu gering. Abgesehen von der einmaligen Investition brauchen Sie dafür auf lange Sicht Menschen, die so etwas pflegen. Das kann unsere städtische Verwaltung nicht schaffen. Wir müssen also zu anderen Maßnahmen greifen, wobei wir da auch beschränkt sind: Zum einen ist Freiberg auf einem Boden gebaut, wo ein Versickern des Wassers schlicht geologisch nicht überall funktioniert. Zum anderen sind wir eine alte Bergbaustadt, unser Grund und Boden ist teils ziemlich durchlöchert, was den Umgang mit Sickerwasser gefährlich macht. Diese Tradition hat andererseits aber den Vorteil, dass es hier sehr viel Erfahrung mit dem Ableiten von Wasser gibt. Eine der Maßnahmen ist, dass wir unsere Teiche entschlammen, damit sie wieder mehr Wasser fassen – das allein kostet immerhin schon 8 bis 10 Millionen Euro.

Was können Sie noch tun?

Freiberg ist die „steinerne Stadt“, Begrünung gehörte im Mittelalter, als die Altstadt entstand, nicht zur Baukultur. Hier können wir aufholen, hier holen wir auf, wie etwa bei der Straßenbegrünung, wie schon geschildert, oder auch auf dem Schlossplatz. Darüber hinaus machen wir privaten Bauherren strenge Vorgaben in Sachen Flächenversiegelung oder erteilen auch mal Festsetzungen, damit das Wasser länger auf privaten Flächen verbleibt. Aber klar ist auch: So etwas kann man von den Bürgern nur verlangen, wenn man sich als Stadt vorbildhaft verhält – sonst wird man unglaubwürdig.

Gibt es denn bei Bürgern, aber auch beim Stadtrat ein Einsehen für solche Maßnahmen und Regeln?

Natürlich findet nicht jeder Bürger jede Maßnahme sofort gut, vor allem, wenn sie ihn selbst einschränkt. Hier braucht es viel mehr Bürgerbeteiligung als früher – und zwar im Sinne von echter Information und echtem Austausch. Nachdem wir das bei Straßenbaumaßnahmen inzwischen regelmäßig so halten, habe ich schon das Gefühl, dass man den Freibergern Vieles nur erklären muss und dann auch Verständnis entsteht.

Wir haben in Freiberg Stadtteile, da läge die Vorwarnzeit bei einer drohenden Flut bei acht Minuten – angesichts dieser Zahl wird dem Letzten klar, dass es Handlungsbedarf gibt.

Martin Seltmann, Bürgermeister

Martin_Seltmann_FotoLutzWeidler

Und die Stadträte?

Grundsätzlich habe ich bei jedem Einzelnen das Gefühl, dass es ihm um Freiberg geht. Ich hoffe, das wird mit dem neu gewählten Stadtrat ähnlich.

Das klingt jetzt sehr diplomatisch. Gibt es „Brandmauern“?

Ja, die gibt es. Es mag vielleicht eigenartig klingen, aber ich würde mir manchmal wünschen, dass es davon weniger gäbe. Dass man die große Parteipolitik außen vor lässt, stärker Sachargumente berücksichtigt und zu pragmatischen und langfristigen Lösungen kommt. Das ist in meinem Arbeitsbereich noch relativ häufig der Fall, im Bereich Soziales aber schon seltener. Letztendlich sollte für jeden Stadtrat entscheidend sein, dass sich die Bürger in der Stadt wohlfühlen, sie als Heimat empfinden – ganz gleich, was sie wählen. Und, dass sie als Stadträte Entscheidungen treffen müssen, die nicht nur für fünf, sondern für die nächsten 30, 40, 50 Jahre wichtig sind. Das sind in der Stadtplanung unsere Zeithorizonte.

Das klappt nicht immer, wie zuletzt beim Klimaschutzkonzept…

Das war für mich ein Aha-Effekt. Wir hatten in der Verwaltung das Gefühl, das gut vorbereitet zu haben in Bürgergesprächen und Workshops und auch in Gesprächen mit den Fraktionen. Am Ende wurde dann trotzdem beschlossen, das Konzept zu vertagen und den neu gewählten Stadtrat entscheiden zu lassen.

Stadtentwicklung ist also auch politisch?

Keine Frage, mein Bürgermeisteramt ist ein politisches Amt. Weil ich keiner Partei angehöre, brauche ich für jeden Beschluss, für jedes Konzept eine eigene Mehrheit im Stadtrat. Und manchmal muss man dann rechtzeitig merken: Hier geht der Stadtrat mit meiner fachlichen Ansicht nicht mit. Plan A ist politisch nicht durchsetzbar, also braucht es Plan B. Und manche Sachen bekomme ich einfach nicht, auch wenn ich sie für wichtig halte. Da müssen dann andere Ideen her.

Welche Dinge würden Sie denn durchsetzen, wenn Sie könnten, wie sie wollten?

Aus meiner Sicht ist das Thema Fahrradstraßen wichtig. Das Mobilitätsverhalten ändert sich, durch E-Bikes und Pedelecs auch bei älteren Bürgern. Aber hier werden wir nur Stück für Stück vorwärtsgehen können. Auch beim Thema Grünumbau in der Stadt sind wir weniger schnell, als mir lieb wäre, allerdings eher aus wirtschaftlichen Gründen. Derzeit bindet die Digitalisierung der Verwaltung, die genauso notwendig ist, viele Mittel. Und schließlich würde ich gern unsere Vermieter bei der Sanierung unserer Großwohngebiete stärker unterstützen. Da bräuchten wir auch ein viel größeres Augenmerk auf den Bereich Sozial-Infrastruktur, um ein soziales Abdriften dieser Gebiete zu verhindern. Denn diese Bereiche der Stadt gehören - neben der schönen Innenstadt - ja auch zu den Aufgaben, die wir anfassen müssen, denn fast 50 Prozent unserer Bürgen wohnen in Großsiedlungen.

Ihnen wird in den kommenden Jahren die Arbeit nicht ausgehen. Herr Seltmann, wir danken für das Gespräch.

Das Interview führte Volker Tzschucke.

Zur Person

Martin Seltmann, Jahrgang 1982, studierte Landschaftsarchitektur an der Technischen Universität Dresden. Seit 2017 arbeitet er in der Stadtverwaltung Freiberg, zunächst als Referent des Bürgermeisters für Stadtentwicklung und Bauwesen. 2020 wurde er Leiter des Stadtentwicklungsamts. 2023 wählte der Stadtrat den parteilosen Seltmann zum 1. Beigeordneten sowie Bürgermeister für Stadtentwicklung und Bauwesen, seit 1. April 2023 bekleidet er dieses Amt. Seltmann lebt mit Frau und zwei Kindern in der Freiberger Altstadt. In der Freizeit ist er am liebsten unterwegs – zum Radfahren, Laufen und Klettern.

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